Cherson: Ukrainische Kinder spielen an einem verwaisten Checkpoint.Bild: AP / Bernat Armangue
International
Russland verschleppt ukrainische Kinder – und nutzt sie für Propaganda-Zwecke. Eines dieser Kinder ist unserer Autorin auf ihrer Reise im Donbass begegnet.
Es ist Mitte Januar und es ist laut in Bachmut. Die Schlacht um die ukrainische Stadt ist in vollem Gange – und sie ist barbarisch. Dennoch gehen Freiwillige in das zum Großteil zerstörte Gebiet, um zu helfen. Einer der Anfahrtspunkte: ein Keller, in dem rund 30 Menschen leben.
Die Freiwilligen steigen die Treppe herab, da streckt schon ein kleines Mädchen seinen Kopf durch den Schlitz zwischen zwei Vorhängen, die den Kellereingang vom Schlafbereich trennen. Oben sind Einschläge von Artillerie zu hören. Hier unten ist es dunkel, die Geräusche von draußen dumpf – als wäre man mit dem Kopf unter Wasser.
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Melania, so heißt das Kind, reißt ihre Augen auf und formt die Lippen zu einem Grinsen. Ihre kurzen, dunkelblonden Haare stehen ab, sie trägt glitzernde Ohrringe. Die Elfjährige schiebt die Vorhänge beiseite, springt auf einen der Freiwilligen zu und umarmt ihn, mehrere Minuten lang. Sie kennen sich, sehen sich seit Wochen fast täglich. Sie spielen miteinander, er liest ihr vor.
Evakuiert werden will Melanias Familie aber nicht.
Drei Monate später.
Bachmut ist für Zivilist:innen von außen nicht mehr zu erreichen. Zu große Landgewinne haben die russischen Kämpfer gemacht. In russischen oder prorussischen Telegram-Gruppen tauchen fast täglich Listen mit Namen auf. Menschen, die "evakuiert" wurden. In russisch besetztes Gebiet oder ganz bis über die Grenze. Ob es sich um Rettungsaktionen oder Verschleppungen handelt, ist nicht immer klar.
Der große Schock: Kind wurde von Russen verschleppt
Es ist der 3. April. Und es taucht auch Melanias Name auf einer dieser Listen auf.
Für die Freiwilligen ein Schock. Dabei war es nur eine Frage der Zeit. Doch die Realität wird oft erst wirklich real, wenn sie mit aller Härte einschlägt. Dass Melania jetzt auch zu den verschleppten Kindern gehört, schmerzt.
Dann der nächste Schock.
Rund eine Woche später pingt ein weiterer Telegram-Kanal auf. "Artjomowsk Bakhmut". Geteilt werden die Informationen darin von einem Bot, der sich "rusbakhmutbot" nennt. Ein Videobeitrag des russischen Militär-Propagandisten Alexander Simonov erscheint im Chat, darin interviewt er Melania und ihre Mutter.
Das ukrainische Mädchen Melania tauchte in einem Propaganda-Video auf.Bild: Screenshot / Alexander Simonov
Sie erzählt, dass die "White Angels", eine Sondereinheit der ukrainischen Polizei, Kinder aus Bachmut gegen den Willen ihrer Eltern mitnähmen. Ihrem Großvater habe man erzählt, dass ihre Mutter erschossen worden sei. Später erzählt sie von einem anderen Kind, das angeblich von seinen Eltern getrennt wurde. Die "White Angels" hätten die Eltern mit Gewehren bedroht. Doch das Kind sei freiwillig mitgegangen.
Sagt sie, was sie wirklich fühlt? Einige der Aussagen sind weit entfernt von dem, was in Bachmut geschehen ist. Die "White Angels" sind tatsächlich in den umkämpften Städten unterwegs und evakuieren Menschen.
Propaganda-Video: Aussagen passen nicht zueinander
Doch Berichte etwa über Bedrohungen von Zivilist:innen gibt es keine. Sie arbeiten eng mit NGOs zusammen, auch mit der Gruppe, die sich zuvor um Melania und ihre Familie gekümmert hatte. Wie genau die Korrespondenz zwischen ihnen und Melanias Familie abgelaufen ist, lässt sich nicht mehr überprüfen. Allerdings sind Melanias Aussagen widersprüchlich.
Melanias Familie hatte sie ab einem gewissen Zeitpunkt versteckt gehalten. Selbst die Freiwilligen, zu denen die Familie Vertrauen aufgebaut hatte, hatten irgendwann keinen Zugang mehr zu ihr. Man erzählte ihnen, sie hätten sie bereits evakuiert. Das glaubte aber zu diesem Zeitpunkt niemand mehr. Es gab Gerüchte in Bachmut, dass die Regierung Kinder bald zwangsevakuieren würde. Seither versteckten viele, die zurückgeblieben waren, ihre Kinder.
Tatsächlich kam die Anordnung zur Zwangsevakuierung Anfang März. Darin heißt es, dass Kinder in Begleitung eines Erziehungsberechtigten aus den Gebieten zwangsweise herausgeholt würden, sofern es die militärische Lage zulasse.
Um sie zu evakuieren, versuchen die "White Angels", die Menschen zu überreden. Sie zeigen ihnen Videonachrichten von Verwandten, erklären ihnen, wie eine Evakuierung verläuft, wo sie unterkommen werden. Wie die "White Angles" arbeiten, zeigt auch der Sender Deutsche Welle in einem Beitrag auf.
Die Drohung einer zwangsweisen Evakuierung ohne Melanias Mutter durch die "White Angles" ist zumindest unwahrscheinlich. Zumal sie, wie Melania später erzählt, angeblich die Menschen mit Waffen bedroht hätten, um die Kinder mitzunehmen. Warum konnte Melania bei ihrer Familie bleiben? Warum hat man den Großvater nicht bedroht oder gar erschossen?
Es passt nicht zusammen.
Russland rühmt sich mit Entführung der Kinder
Bereits seit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch verschleppt Russland ukrainische Kinder. Moskau spricht von Rettung, der Rest der Welt von Entführung. Russland habe seit Beginn des Einmarsches rund 730.000 Kinder aus dem Osten der Ukraine aufgenommen, erklärte die russische Beauftragte für Kinderrechte, Maria Lwowa-Belowa, Mitte April.
Von ukrainischer Seite sind andere Zahlen zu vernehmen. Im März sprach man von rund 16.000 Kindern. Aktuellere Zahlen wurden seither nicht veröffentlicht. Eine Anfrage ließ sowohl das ukrainische Ministerium für Jugend und Sport als auch das Sozialministerium unbeantwortet.
Als die ukrainische Regierung die Anzahl der Kinder veröffentlichte, hatte der Internationale Strafgerichtshof gerade einen Haftbefehl gegen Lwowa-Belowa und den russischen Präsidenten Wladimir Putin erlassen. Konkret geht es darin um die Verschleppung der Kinder – ein Kriegsverbrechen.
Russland nutzt Kinder regelmäßig für Propaganda
Und nicht nur das. Ukrainische Kinder werden regelmäßig zu Propagandazwecken vor die Kameras russischer Blogger, Youtuber oder Nachrichtensender gezerrt.
Wie Melania.
Melania berichtet in einem Propaganda-Video über angebliche Bedrohungen ukrainischer Einheiten.Bild: screenshot / alexander simonov
Sie sieht gut aus in dem Video. Die Augenringe sind verschwunden, sie trägt saubere Kleidung. Sitzt draußen in einem Park. Für das Kind hat sich die Situation verbessert. Sie kann wieder leben – ohne sich vor Bomben oder Kalaschnikows fürchten zu müssen. So wirkt es zumindest.
Wie die Realität der verschleppten Ukrainer:innen aussieht, lässt sich nicht unabhängig prüfen. Gewiss ist aber: Russland nutzt jede Form der Manipulation. Nicht nur, um das eigene Volk zu täuschen. Propaganda betreibt das Land auch international. Videos, wie das von Melania, sind ein Instrument dafür. Man will der Welt erzählen, dass die Kinder in Russland glücklicher seien.
Das konnte auch eine Recherche von RTL und dem "Stern" verdeutlichen. Hier geht es um die 13-jährige Anna. Das Mädchen, das sich am 22. Februar bei Putins großer Propagandashow kurz vor dem Jahrestag des Einmarsches bei ihrem angeblichen Retter, "Onkel Yurij", bedankt.
Die Erzählung in russischen Medien gleicht einer Heldenlegende. Und "Onkel Yurij" spielt die Hauptfigur. Der Mann soll laut russischen Angaben bis zu diesem Zeitpunkt knapp 370 Kinder gerettet haben. Was aber verschwiegen wird: Anna wurde nach Russland gebracht, nachdem ihre Mutter in Mariupol getötet wurde – von russischer Artillerie.
Auch Anna taucht nach ihrem Verschwinden aus Mariupol zuerst in einem Telegram-Kanal auf. Und zwar, in dem von der russischen RT-Journalistin Julia Martovalieva. Kurz darauf wird Annas "Rettung" in einem Fernsehbeitrag auf RT breitgetreten.
Was die Journalist:innen von "Stern" und RTL auch finden: Den Social-Media-Auftritt von Anna. Darin zeigte sie ein trauriges Video von sich in schwarz-weiß. Und sie schreibt: "Mama, ich will zu dir".
Kinder werden manipuliert, vielleicht auch bedroht. Videos wie die von Anna oder Melania, Veranstaltungen, Zeremonien, feierlich inszenierte Passübergaben. Der Kreml weiß, wie leicht man sie manipulieren – und wie leicht man die Welt mit ihren Geschichten beeinflussen kann.