Ein Protest in Kiew gegen russische Kriegsverbrechen in der besetzten ukrainischen Stadt Mariupol. Nun gibt es neue Beweise zu systematischen Kindesentführungen.Bild: imago images / ZUMA Wire/ Sergei Chuzavkov
Analyse
Böse Überraschung für russische Kollaborateure, die an der Entführung von ukrainischen Kindern in Mariupol beteiligt waren. Hacker haben im großen Stil verräterische Daten erbeutet und weitergegeben.
09.09.2023, 15:3009.09.2023, 15:31
Daniel Schurter / watson.ch
Mychajlo Podoljak, einer der engsten Berater des ukrainischen Präsidenten, brachte es in einem ZDF-Interview auf den Punkt: Wenn ein Land auf das Gebiet eines anderen Landes komme und dort Zivilisten töte, müsse das Konsequenzen für die Täter haben. "Jeder Kriminelle, ob Soldat oder nicht, muss auf die Anklagebank gesetzt werden können."
Das Gleiche gilt für die Verschleppung ukrainischer Kinder durch Besatzer und Kollaborateure. Beim Aufdecken solcher Fälle spielen ukrainische Hacker eine zentrale Rolle.
So ist es gemäß neueren Berichten einer Gruppe Freiwilliger gelungen, umfassende Beweise für systematische Kindesentführungen aus der Ukraine und die Täter dahinter zu finden. Die Gruppe nennt sich KibOrg. Es sind ukrainische Journalistinnen und Journalisten und IT-Fachleute.
Zu ihren Zielen erklären die ehrenamtlich arbeitenden Aktivistinnen und Aktivisten:
"Wir untersuchen die Verbrechen der Russen in der Ukraine, decken die Aktivitäten von Kollaborateuren auf und entlarven russische Fälschungen."
Zum KibOrg-Team gehörten Hacker, "die Informationen von den Computern der Besatzer extrahieren". Darüber hinaus verwende man verschiedene Online-Ermittlungstechniken, um Daten zu überprüfen und Analysen zu erstellen.
Um was für Daten zu verschleppten Kindern handelt es sich?
KibOrg konnte die im Auftrag des russischen Staates betriebene Datenbank "Kinder des Donbass" auswerten.
Man habe mehr als ein halbes Terabyte an Daten über zehntausende verschleppte Kinder sichern und an ukrainische Strafverfolgungsbehörden übergeben können.
Dieses Beweismaterial wird laut Bericht auch in das Strafverfahren des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag einbezogen: Bereits Anfang 2023 wurden Haftbefehle gegen Russlands Präsidenten Wladimir Putin und die "Beauftragte für Kinderrechte", Maria Lvova-Belova, erlassen.
Gegen den russischen Machthaber Wladimir Putin liegt ein internationaler Haftbefehl vor.Bild: IMAGO/Wolfgang Maria Weber
KiBorg konnte über die Auswertung öffentlich verfügbarer Informationen im Internet – das nennt man Open Source Intelligence, oder kurz OSINT – dutzende Organisatoren und Personen ermitteln, die für die Verschleppung von Kindern nach Russland verantwortlich seien. Darunter habe es etliche ukrainische Kollaborateure, die seit 2014 in den besetzten Gebieten mit russischen Behörden kooperierten.
Dazu kommentiert ein X-User:
"Wir wissen aus unserer Geschichte: auch der grausamste Diktator kann seine Verbrechen nicht allein begehen. Er braucht Mittäter und Profiteure, um seine Pläne in die Tat umzusetzen. Schreibtischtäter, die am runden Tisch die Vernichtung eines Staates und Volkes planen."
Warum werden ukrainische Kinder verschleppt?
Es gibt mehrere Gründe.
- Das Regime in Moskau unter Führung von Wladimir Putin will den ukrainischen Staat und dessen demokratische Strukturen vernichten.
- Kinderlosen Paaren in Russland und in den besetzten ukrainischen Gebieten oder solchen, die mehr Nachwuchs wollen, ist offenbar jedes Mittel recht.
- In verschiedenen Fällen geht es auch um persönlichen Profit: Kollaborateure verschaffen sich Vorteile. So soll etwa auf das Erbe von Waisenkindern abgezielt worden sein.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj fand jedenfalls deutliche Worte:
"Die Deportation ukrainischer Kinder ist eines der komplett vorsätzlichen Elemente von Russlands Versuch, die Identität unseres Volkes auszulöschen und das Wesen der Ukrainer auszulöschen."
Im April dieses Jahres entschied der Europarat, dass die Deportation ukrainischer Kinder nach Russland Anzeichen eines Völkermordes aufweist. Das Kreml-Regime streitet die durch Schilderungen von Betroffenen dokumentierte Vorgehensweise aber nach wie vor ab und behauptet, die Kinder lediglich aus Kriegsgebieten evakuiert zu haben.
Auch schon vor Beginn des russischen Angriffskrieges seien Kinder aus Heimen und Pflegeeinrichtungen entführt worden, hat hingegen die Parlamentarischen Versammlung des Europarates offiziell festgehalten.
Wie die 15-jährige Nastia ihren russischen Entführern entkam
Das Online-Medium "
derstandard.at" schildert in einer am 18. August veröffentlichten Reportage den Fall einer jungen Ukrainerin, die es aus der von Russland besetzten Südukraine frei kam und heute in der Hauptstadt Kiew lebe. Gerade mal um die 300 entführte Kinder hätten es zurück auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet geschafft, heißt es. Denn hinter der Verschleppung stecke "ein weitverzweigtes System aus Lagern und Heimen sowie administrativen Maßnahmen", die die Nachverfolgung erschwerten.
Die 15-Jährige sei am 4. November 2022 auf dem Heimweg von einer Geburtstagsfeier in eine russische Kontrolle nahe der damals noch besetzten Stadt Cherson geraten und mitgenommen worden. Daraufhin sollte sie in einem Lager mit anderen entführten Kindern "russisch-patriotisch indoktriniert werden". Durch eine glückliche Fügung des Schicksals kam sie frei. Die genauen Umstände werden nicht verraten, jedenfalls konnte die leibliche Mutter das Mädchen abholen.
Verschleppte Kinder zu finden, sie gar zurückzuholen, sei ein Knochenjob, heißt es im Bericht. Das ukrainische Rettungsnetzwerk
Save Ukraine arbeite daran. Einmal adoptiert, sei eine Rettung so gut wie unmöglich.
Mit der Invasion im Februar 2022 nahmen die Kindesentführungen massiv zu. Auf direkte Anweisung des russischen Despoten Putin gingen die Besatzer systematisch vor, um möglichst viele Minderjährigen zu entwurzeln.
In einigen Fällen wurden auch gezielt Kinder zu Waisen gemacht, entweder durch Ermordung oder Inhaftierung der Eltern, um die Kleinen mitnehmen zu können.
Für verschleppte ukrainische Kinder, die sich gegen die Adoption und Umerziehung zu Russen wehrten, organisierte Lvova-Belova mit dem Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow militärische Jugendlager in Tschetschenien, die einen "militärisch-patriotischen Wandel" herbeiführen sollten.
Anzumerken bleibt, dass die Zwangsumsiedlung von Kindern ein Kriegsverbrechen ist. Und Kriegsverbrechen verjähren nicht.
Warum hilft die russische Kinder-Datenbank nun den Opfern?
Dank der von Hackern erbeuteten Datenbank können die Verantwortlichen in den russischen besetzten Gebieten der Ukraine – hier Mariupol – identifiziert und verfolgt werden.
Die Aktivisten stellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der «Abteilungen für Familie und Kinder» im besetzten Mariupol an den Pranger.screenshot: kiborg.news / verpixelung: watson.ch
Im März 2023 gab Maria Lvova-Belova, Beauftragte für Kinderrechte unter dem Präsidenten der Russischen Föderation, bekannt, dass die besetzte Region Donezk die erste der annektierten Regionen sein werde, die an die staatliche russische Kinder-Datenbank angeschlossen werde.
Die Hauptfunktion dieses Systems sei die Speicherung und Verarbeitung von Daten aller ohne elterliche Fürsorge zurückgebliebenen Kinder und Waisen sowie die Registrierung russischer Familien, die Kinder adoptieren möchten.
Zugriff auf die russische Datenbank haben gemäß Bericht nur einzelne Fachkräfte, die direkt vom "Staatlichen Dienst für Familie und Kinder" (DSSSD) benannt werden.
Um Informationen abzurufen, sei eine spezielle Software erforderlich, die zusätzlich einen individuellen Benutzernamen sowie ein individuelles Passwort erfordere.
Dies habe die Hacker nicht abhalten können. So habe das KibOrg-Team die vollständige Datenbank erhalten, "dank patriotischer Bürger, die ihr Leben riskierten, um die Verbrechen der Russen zu dokumentieren", wie es heißt.
"Die im System enthaltenen Informationen sind von außerordentlichem Wert bei der Suche nach Kindern, die aus der besetzten Region Donezk verschleppt wurden."
Wegen der Sensibilität der Informationen werden keine Angaben zu den betroffenen Minderjährigen und ihren Angehörigen öffentlich zugänglich gemacht. Als Beweis haben die Menschenrechts-Aktivisten jedoch Screenshots aus der Datenbank "Kinder des Donbass" zur Verfügung gestellt.
Die Dokumentation aus dem von den Russen besetzten Mariupol, einer ukrainischen Stadt mit fünf Verwaltungsbezirken, werde "viel über systematische Verbrechen gegen die Rechte ukrainischer Kinder erzählen", so KibOrg.
Auf der Website des Recherche-Kollektivs ist eine sehr lange Liste mit mutmaßlichen Täterinnen und Tätern aufgeführt. Viele Personen werden mitsamt Foto gezeigt. Und alle Daten können für weiterführende Untersuchungen über die Website der Vereinigung heruntergeladen werden.
Bundeskanzler Olaf Scholz' (SPD) Vertrauensfrage am 16. Dezember soll den Weg für die Neuwahlen im Februar ebnen. Es gilt als reine Formalität, damit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dann den Bundestag auflösen kann.