Männer zünden eine Flagge an, lassen sie zu Boden fallen und jubeln auf. Die Flammen fressen das Blau, Weiß, Rot auf – die Farben der französischen Nationalflagge. Dunkler Qualm steigt bis zu den Gesichtern der Demonstrierenden auf.
Der Wind trägt die Asche einer Flagge davon, während die Menschen im westafrikanischen Niger eine andere triumphierend in der Luft schwenken. Es sind dieselben Farben, nur in einer anderen Anordnung. Und doch steht sie für tausende Nigrer:innen offenbar für einen Wandel. Sie setzen ihre Hoffnung auf Russland.
Westafrika durchlebt eine Welle an Staatsstreichen und Putschversuchen. Mali, Burkina Faso und nun auch Niger – gleichzeitig macht sich eine anti-westliche, vor allem frankreichfeindliche, Stimmung in der Region breit, während Russland als neuer Partner "auf Augenhöhe" angesehen wird.
Oft bleibt bei den Berichten zu den Unruhen in Westafrika, wie jüngst in Niger, eines außer Acht: Die Folgen der französischen Kolonialzeit. Denn: "Ohne den europäischen Kolonialismus gäbe es diese Staaten nicht", sagt Historiker Jürgen Zimmerer auf watson-Anfrage. Er ist Professor für die Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg.
Laut Zimmerer sind etwa Niger und Burkina Faso aus der Konkursmasse des französischen Kolonialreiches als unabhängige Staaten hervorgegangen. "Noch heute stehen sie unter französischem Einfluss, sowohl finanzpolitisch als auch etwa durch französische Truppen im Land", sagt Zimmerer. Ihm zufolge wäre es aber vereinfacht, alle Probleme auf den formalen Kolonialismus zurückzuführen.
Aber: Es gebe durchaus "schwere Hypotheken", sprich, ein schweres Erbe durch die Kolonialzeit, das Probleme mit sich bringt. Als Beispiel nennt Zimmerer die Kontrolle der jeweiligen Führung des Landes.
"Bei der Unabhängigkeit gab es keine breite, florierende Zivilgesellschaft, die die Regierungen hätten kontrollieren können", meint er. Die Eliten seien dagegen oft auf Frankreich ausgerichtet, schicken ihre Kinder dort oder in den USA zur Schule, was die Distanz zur Bevölkerung noch vertiefe.
Denn diese lebt in tiefer Armut.
Niger bildet gemeinsam mit Mali sowie Burkina Faso das Schlusslicht im Ranking des "Human Development Index" der Vereinten Nationen. Bei den aufgelisteten 191 Ländern nimmt Niger Platz 189 ein.
Laut der EU-Kommission benötigen mehr als 4,3 Millionen Menschen humanitäre Hilfe in Niger. Dazu seien etwa zwei Millionen Menschen von einer unsicheren Ernährungslage betroffen. Es heißt weiter: "Es wird davon ausgegangen, dass 2,8 Millionen Menschen in der Magersaison 2023, Juni bis August, von schwerer Ernährungsunsicherheit bedroht sein werden."
Dürren, Heuschreckeninvasionen, steigende Preise für Grundnahrungsmittel und Konflikte führen zu der schwierigen Lebenssituation im Land. Dabei ist Niger reich an Rohstoffen und exportiert vor allem Uran und Erdöl etwa für die Stromproduktion – auch an die Europäische Union. Gleichzeitig besitzt das Land eine der niedrigsten Elektrifizierungsraten Westafrikas, das zeigen Recherchen der Deutschen Welle.
Demnach hatten im Jahr 2021 etwa 81 Prozent der nigrischen Bevölkerung keinen Zugang zu Strom. Gleichzeitig bezog Frankreich in den vergangenen zehn Jahren etwa 15 Prozent seiner Uranlieferungen aus Niger. Laut des Berichtes ist Niger aber am Ende gar nicht darauf ausgelegt, Uran für die eigene Stromversorgung zu nutzen – dennoch steigt die Wut auf die ehemalige Kolonialmacht Frankreich.
Die Putschisten in Niger erhalten daher Zuspruch vom Volk für ihren Machtumsturz – und die Festnahme des pro-westlichen Präsidenten Mohamed Bazoum. Mittlerweile haben sie eine Regierung aus Militärs und Zivilisten gebildet. Nun drohen sie damit, alle Militärverträge mit Frankreich aufzulösen, auch soll der Uran-Export eingestellt werden.
Zimmerer zufolge ist Uran einer der Faktoren, warum sich der Globale Norden für Niger interessiert. "Die Länder Afrikas interessieren den Westen nur als Rohstofflieferanten, oder wenn es um die Eindämmung von Migration nach Europa geht, oder bei geostrategischen Interessen", meint er.
Das sei eine Fortsetzung einer imperialen Mentalität, die in den Staaten Afrikas nur die europäischen Interessen sieht. Laut des Historikers sitzen die Demütigungen dagegen tief, und zwar bei:
Das räche sich nun, da sowohl China als auch Russland "Augenhöhe" anbieten, sagt Zimmerer. Die Times schreibt etwa, dass der Putsch "für Putin die Tür in Afrika öffnet". Allerdings zeigt der Einfluss der russischen paramilitärischen Wagner-Gruppe, dass die Tür schon längst offen steht.
So meldete sich Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin zu Wort. Der Aufstand sei "ein Kampf um die Freiheit" und hoffentlich "werden sie es schaffen", zitiert ihn der Konfliktbeobachter Nikita Gerasimov von der Freien Universität Berlin auf seinem Telegram-Kanal. Laut Prigoschin hat Frankreich das Volk Nigers seit Langem in Armut gehalten und ausgebeutet.
Gerasimov zufolge stünden die Wagner-Söldner in Mali an der Niger-Grenze schon bereit, um jederzeit einzurücken. Denn in Mali ist die Wagner-Gruppe schon seit 2021 präsent. Französische Truppen sind hingegen abgezogen, die deutsche Bundeswehr soll folgen.
Prigoschin könnte nun auch die Spannungen in Niger ausnutzen, indem er eine militärische Partnerschaft anbietet. Putins Top-Propagandist Wladimir Solowjow fordert bereits russische Waffenlieferung an Niger, um den französischen Imperialismus zu zerschlagen.
Fakt ist: Frankreich verliert zunehmend Einfluss in Westafrika – eben auch durch russische Einmischung, meint Gerasimov. Wie sollte die ehemalige Kolonialmacht und der Westen nun auf diese politische Entwicklung reagieren?
Laut Zimmerer ist eine einfache Lösung nicht in Sicht. Im sich immer stärker abzeichnenden globalen Ringen des "Westens" mit China und Russland eröffneten sich für ehemals kolonial abhängige Staaten Handlungsoptionen – ähnlich wie im Kalten Krieg. Allerdings birgt das auch Gefahren. So könnte eine militärische Intervention von Ecowas zur Eskalation in der ganzen Sahel-Zone führen.
Ecowas ist die Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten. Sie drohte den Putschisten mit Einmarsch ins Land. Laut Gerasimov erklärte Frankreich offen seine Unterstützung für solch ein Vorhaben. Die USA halten derweil an diplomatischen Wegen fest.
Der Historiker ist der Auffassung, der Westen, oder besser der Globale Norden, trage eine historische Verantwortung für die Verwerfungen des Kolonialismus. "Dieser gehört etwa in finanz- und wirtschaftspolitischer Hinsicht keineswegs der Vergangenheit an", meint er. Auch für die Klimakrise habe man eine gegenwärtige Verantwortung. Die Folgen treffen die Menschen des Globalen Südens besonders hart – obwohl sie weit stärker vom Globalen Norden verursacht werden.
Doch sollte man in die Inlandspolitik eingreifen? "Am Ende müssen das die afrikanischen Nachbarstaaten selbst entscheiden", meint Zimmerer. Denn: Eine Einmischung von außen, aus etwa Europa, habe sich bisher immer als kontraproduktiv gezeigt und schüre die alten Vorwürfe aus der Kolonialzeit.