Plötzlich verschlug es Recep Tayyip Erdogan die Sprache.
Der türkische Präsident sprach Anfang Juni auf einer Veranstaltung in Diyarbakir – einer Stadt, die überwiegend von Kurden bewohnt wird. In einer typischen AKP-Wahlkampfrede schimpfte Erdogan gegen die Kurdenpartei HDP. Sie sei lediglich der politische Arm der Terrorgruppe PKK. Doch mitten in seinen Angriffen auf den politischen Gegner hielt er inne und starrte versteinert auf den Teleprompter vor sich.
Ein technischer Defekt stoppte die Rede für wenige Minuten und der wortlose Präsident sorgte für viel Spott im Netz. Die Szene war sinnbildhaft für einen Präsidenten, der im Endspurt vor der Wahl schwach wirkt. Ihm steht eine geeinte Opposition gegenüber. Erstmals ist er angreifbar. Erstmals könnte er eine Wahl verlieren.
Dabei ist Erdogan kurz vor seinem selbst erklärtem Ziel: Nach einem Wahlsieg des 64-Jährigen würde das umstrittene Präsidialsystem in Kraft gesetzt, das er sich mit dem Verfassungsreferendum im Frühjahr 2017 mit einer knappen Mehrheit hart erkämpft hat. Als Präsident könnte er dann Minister selbst ernennen – eine Zustimmung des Parlaments benötigt er nicht mehr. Während Erdogan in einer Istanbuler Stadtzeitung von "echter Gewaltenteilung" sprach, befürchtet die Opposition den Weg in eine Diktatur und möchte den Weg zurück zur parlamentarischen Demokratie. Scheitert Erdogan also bei der Wahl, scheitert wohl vorerst auch sein Präsidialsystem. Es geht nicht nur um Macht, sondern auch um Erdogans politisches Vermächtnis.
Eine Wahlniederlage wäre also desaströs für den AKP-Chef. Neben seiner Gefängnisstrafe, die er im Jahr 1999 wegen "Schüren religiösen Hasses" absitzen musste, wäre sie wohl sein politischer Tiefpunkt. Dabei tat er in den letzten fünf Jahren nahezu alles, um die absolute Mehrheit der AKP im Parlament zu festigen. Er kündigte den Friedensprozess mit der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK auf und nach dem Putschversuch herrscht seit zwei Jahren der Ausnahmezustand. Zahlreiche Staatsbedienstete wurden in dieser Zeit entlassen oder inhaftiert und auch politische Gegner von der HDP und rund 150 regierungskritische Journalisten sitzen im Gefängnis.
Erdogans aggressive Rhetorik führte zu einer Politik der verbrannten Erde – die türkische Gesellschaft ist tief gespalten. Ausgenommen wirtschaftliche Themen, geht es bei der Wahl nur untergeordnet um Inhalte. Die Wähler folgen oft bedingungslos einer Seite. Man ist entweder für oder gegen Erdogan. Diese Politik vermochte es in den letzten Jahren, eine treue Gefolgschaft hinter Erdogan und hinter der AKP zu versammeln.
Jedoch sorgte dieser spalterische Populismus auch dafür, dass die Opposition bei dieser Wahl eine vereinte Front gegen Erdogan aufbauen konnte. Die sozialdemokratische CHP schloss ein Wahlbündnis mit der konservativen iYi und der SP – die kurdische HDP sympathisiert trotz der Gräben der Vergangenheit mit diesem Zusammenschluss. Die Opposition eint lediglich die Abneigung gegenüber Erdogan. Die AKP wiederum ging ein Bündnis mit der rechtsradikalen MHP ein.
Erdogan ist trotz der Geschlossenheit der Opposition der Favorit, denn er ist weiterhin der mit Abstand beliebteste Politiker im Land – die AKP liegt in den Umfragen deutlich vorne. Trotzdem würde die AKP selbst mit der MHP laut aktuellen Umfragen bei den Parlamentswahlen eine absolute Mehrheit verfehlen. Auch Erdogan selbst bekäme bei der Präsidentschaftswahl keine 50 Prozent der Stimmen und müsste deshalb in eine Stichwahl gegen den stärksten Kandidaten der Opposition.
Die zweite Runde fände am 8. Juli statt und würde die Karten neu mischen. Wenn das Oppositionsbündnis hält und die Parteien die eigene Wählerschaft überzeugen können, für einen Oppositionskandidaten zu stimmen, ist die Wahl Erdogans ernsthaft in Gefahr. Denn zusammengenommen ist die Opposition in der Überzahl.
In einer Stichwahl würde Erdogan wahrscheinlich gegen Muharrem Ince antreten müssen. Der Spitzenkandidat der Republikanischen Volkspartei CHP kann genau wie Erdogan laute und populistische Reden schwingen. Durch eine gewisse Bodenständigkeit und Religiosität ist er allerdings auch für konservative Türken wählbar. Ince inszeniert sich als Gegenmodell zum Machthaber Erdogan. "Seit 16 Jahren polarisiert und spaltet Erdogan die Gesellschaft. Ich werde ganz das Gegenteil sein. Ich werde ein Präsident sein, der vereint", sagte Ince kürzlich.
Das Interesse an dem früheren Lehrer ist riesig. Bei den wenigen seiner Wahlkampfauftritte, die im Fernsehen übertragen wurden, explodierten die Einschaltquoten. "Die Türkei will keinen erschöpften Mann, der schreit und tobt, sondern jemand Jüngeres, Gelasseneres", sagte der 54-Jährige mit Blick auf Erdogan. Die Türkei sei "bereit", nach 16 Jahren unter der Regierung von Erdogans AKP eine neue Seite aufzuschlagen.
Für Ince und die Opposition spricht die aktuell schlechte wirtschaftliche Lage der Türkei. Die Sorge um die türkische Wirtschaft ist das einzig zentrale inhaltliche Thema bei dieser Wahl. Der Erfolg von Erdogan und der AKP basierte in der Vergangenheit oft auf der Zuschreibung von wirtschaftlicher Kompetenz. Diese Zuschreibung wird durch ein rasantes Wirtschaftswachstum untermauert. Bei vielen Türken hat die wirtschaftliche Unfehlbarkeit der AKP allerdings mittlerweile deutliche Kratzer bekommen.
Das Land leidet aktuell unter der Schwäche der Lira, einer hohen Inflation und einer steigenden Arbeitslosigkeit. Da immer mehr junge Menschen auf den Arbeitsmarkt drängen, liegt die Arbeitslosenquote heute sogar höher als zu Beginn der AKP-Ära. Die aktuelle wirtschaftliche Krise der Türkei schadet dem Präsidenten, denn auch er hat maßgeblich zu den wirtschaftlichen Turbulenzen beigetragen. Erdogan verhinderte lange eine Anpassung des Leitzinses und seine aggressive Rhetorik und die bewaffneten Konflikte der Türkei schreckten vor allem ausländische Investoren ab.
Die Verantwortung dafür suchte er entweder bei der eigenen Zentralbank oder bei den europäischen Ländern, die angeblich viel unternähmen, um ihn aus dem Amt zu drängen.
Die Wirtschaft könnte ein entscheidender Faktor für die Wahl am Sonntag werden, aber es gibt auch Akteure, die eine wichtige Rolle spielen werden. Kommt es zu einer Stichwahl, könnte es ausgerechnet auf die Kurden und die HDP ankommen: Das kurdische Lager in der Türkei ist gespalten. Konservative unterstützen die AKP – Linke, Laizisten und kurdische Nationalisten hingegen die HDP. Sollte die HDP bei der Parlamentswahl die 10-Prozent-Hürde knacken, wäre eine absolute Mehrheit für die AKP im Parlament nicht mehr möglich.
Der charismatische HDP-Spitzenkandidat Selahattin Demirtaş wird bei den Präsidentschaftswahlen die Stichwahl dagegen wohl nicht erreichen. Während des Wahlkampfes versucht er die HDP-Wähler davon zu überzeugen, bei einer Stichwahl für den Kandidaten der Opposition zu stimmen. Damit könnte er entscheidend an Erdogans Thron sägen. Jedem Kandidaten stehen bei der Wahl zweimal zehn Minuten Sendezeit im Fernsehen zu. Diese bekam auch der derzeit inhaftierte Demirtaş – aus dem Gefängnis heraus.
Erdogan schäumte vor Wut und will nach der Wahl das Gesetz ändern, sodass Häftlinge nicht mehr unter dieses Wahlgesetz fallen. Er beschimpfte Demirtaş als "Terroristen".
Muharrem Ince hingegen besuchte Demirtaş dagegen im Gefängnis in Edirne. In der Stichwahl dürften viele HDP-Wähler also für Ince stimmen und Demirtaş könnte aus dem Knast zum Königsmacher werden.
In jedem Fall steht der Türkei eine spannende Wahl bevor. Dies ist bemerkenswert, da die Ressourcen im Wahlkampf sehr unfair verteilt sind. Die AKP und Erdogan kontrollieren die Medien. Nahezu alle großen Zeitungen und Fernsehsender im Land berichten regierungsfreundlich. Die AKP bekam bislang mehr als doppelt so viel Sendezeit, wie alle Oppositionsparteien zusammen.
Bei einem seiner wenigen Fernsehinterviews wird Ince gefragt, was seine Pläne für eine mögliche Stichwahl seien. "Ihr habt die 16 Wahlreden von Erdogan von Anfang bis Ende übertragen, aber nicht einen einzigen meiner 77 Auftritte. Ich frage also eher Sie: Was ist Ihr Plan für die zweite Runde?", sagte Ince.
Sollte es Ince am Ende doch gelingen, Erdogan überraschend zu besiegen, stellen sich viele Menschen in der Türkei eine zentrale Frage: Gibt Erdogan seine Macht kampflos ab?
Sicher ist, dass das Land bei einer Niederlage durch die tief gespaltene türkische Gesellschaft wahrscheinlich mindestens gewaltsame Proteste erleben dürfte. Die AKP wird die stärkste Kraft im Land bleiben und viele Menschen folgen Erdogan bedingungslos.
Für den Fall seines Wahlsieges sprach sich Ince bedächtig für ein friedliches Verhältnis zu Erdogan aus:
Ob Erdogan allerdings seinen Ruhestand plant, darf angesichts seiner machtpolitischen Ambitionen bezweifelt werden.
Dieser Artikel erschien zuerst bei t-online.de