Nur noch 9 Tage bis zu den Wahlen in der Türkei. Und der Druck auf die Oppositionsparteien scheint immer weiter zuzunehmen. Besonders auf die prokurdische Partei HDP, deren Kandidat Selahattin Demirtaş im Gefängnis sitzt.
Aktuell kursiert ein Video auf Twitter, das den türkischen Staatspräsidenten bei einer nicht-öffentlichen Rede vor AKP-Mitgliedern zeigt.
Im Video, das am 13. Juni auf dem regierungskritischen Kanal "Turkey Untold" geteilt wurde, spricht Staatspräsident Erdoğan davon, dass die AKP "spezielle Maßnahmen" gegen die prokurdische Partei HDP einsetzen solle.
Jetzt gab es vier Tote bei einer Wahlkampfveranstaltung in der mehrheitlich kurdischen Stadt Suruç, bei der der AKP-Abgeordnete Ibrahim Halil Yildiz offenbar mit einem Ladenbesitzer in eine gewalttätige Auseinandersetzung geriet.
Einige prokurdische Medien berichten, dass die Bodyguards des AKP-Abgeordneten den Ladenbesitzer angegriffen und verletzt hätten. Regierungsfreundliche Medien verbreiten die Version, es habe einen Angriff auf den AKP-Abgeordneten gegeben, und der hätte sich gewehrt.
Was wirklich passiert ist, und ob es womöglich einen Zusammenhang zwischen dem Aufruf Erdoğans vor Kurzem und den Vorfällen in Suruç gibt, wollte watson mit einem Experten besprechen.
Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er analysiert die Konflikte in der Türkei und promoviert gerade an der Ruhr-Uni in Bochum.
watson: Herr Küpeli, was ist eigentlich gerade in der Türkei los?
Ismail Küpeli: Ursprünglich sollten im Winter
2019 Wahlen stattfinden, die wurden jetzt vorgezogen. Und seitdem ist die Stimmung sehr aufgeregt, alle versuchen noch in der knappen Zeit so etwas
wie Wahlkampf zu betreiben und möglichst schnell und effektiv ihre Wähler zu mobilisieren. Mit allen Mitteln, die man dann eben noch
hat.
In Suruç sind vier Menschen gestorben, die Berichte dazu sind widersprüchlich. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Das
kann man derzeit kaum sagen. Wir haben einerseits die Meldungen von kurdischen
Nachrichtenagenturen, die relativ früh darüber berichtet haben, dass
offensichtlich ein Wahlkampfversuch eines AKP-Abgeordneten schiefgelaufen ist. Was danach folgt, ist eben umstritten.
Was halten Sie für wahrscheinlicher?
Ich
kann mir schlecht vorstellen, dass ein einfacher Ladenbesitzer sagt: 'Ich
greife jetzt diesen Abgeordneten und seine Bodyguards an, obwohl vollkommen klar
ist, dass ich in diesem Kampf unterlegen bin.' In der Vergangenheit gab es viele Vorfälle
und Tote, bei denen man nicht wusste: Was ist dort passiert, wer ist verantwortlich? Der Anschlag in Suruç vor 3 Jahren mit 32 Toten wurde eigentlich
auch nie aufgeklärt.
Es wird sicher eine Version geben, die der
Regierung passt. Es haben sich schon AKP-Abgeordnete und der Ministerpräsident dahingehend geäußert, dass es sich bei
dem Vorfall in Suruç um einen Angriff der PKK handelt. Und das wird sicher die Erzählung sein, die man über
Massenmedien und Regierungsseite durchboxt. Es kann
sein, dass jetzt die HDP unter stärkere Repression gerät.
Welchen Effekt haben solche Gewalttaten auf die Wähler?
Gerade in Krisenzeiten und Konfliktphasen wählen die Menschen oft
sehr konservativ. Darauf hat die AKP immer gesetzt. Es gab 2015 in der Zeit der
Anschläge auch von Erdoğan die Äußerung: 'Wir oder das Chaos'. Das heißt: 'Entweder die AKP wird wiedergewählt und wir können dann für Ruhe und
Stabilität sorgen, oder das Chaos geht weiter.'Die AKP spielt auch
damit, dass die Menschen Angst haben, eine andere Partei als die AKP zu wählen.
Wie schätzen Sie das Video ein, in dem Erdoğan offenbar vor AKP-Abgeordneten davon spricht, die HDP mit „speziellen Maßnahmen“ zu unterdrücken?
Die Aufnahme ist von einem AKP-Mitglied, nicht von
irgendwelchen Oppositionellen, die sich dort reingeschmuggelt haben. Jetzt
stellt sich die Frage: Ist das Video ein Leak oder absichtlich veröffentlicht worden, um HDP-Wähler einzuschüchtern? Letzteres wäre durchaus vorstellbar. Erdoğan spricht dort
eindeutig unter AKP-Politikern, das ist keine öffentliche Veranstaltung.
Was könnten diese "speziellen Maßnahmen" sein?
Das ist die Frage. Soll das, was bereits stattfindet, intensiviert
werden? Also, ist gemeint, dass AKP-Funktionäre mit Wählern sprechen, die nicht AKP wählen und so Druck ausüben? Findet das schon statt und soll das intensiviert
werden? Oder ist damit gemeint, dass es neue, andere Maßnahmen geben soll? Geht es um Wahlfälschung? Dass man die HDP-Wähler physisch
fernhält, geht es um Gewaltakte, wie dem jetzt in Suruç? Das ist die Frage.
Das Video von der Veranstaltung wurde zumindest deutlich vor
der aktuellen Tat in Suruç veröffentlicht.
Erst kam die Rede von Erdoğan vor AKP-Abgeordneten, dann gab es danach ein paar Angriffe auf HDP-Wahlkämpfe und dann kam die Tat in Suruç.
Was ist die Strategie dahinter?
Der ursprüngliche Ansatz Erdoğans war, dass man auf die
Euphorie-Welle nach der Afrin-Offensive ohnehin die Stimmen für sich sicher
hatte. Und dass er deswegen die Wahlen vorgezogen hat, um der Wirtschaftskrise
zuvorzukommen.
Der Gedanke war: Das wird schon reichen. Die Opposition sei ohne nicht vorbereitet da kaum Zeit für Wahlkampf blieb. Und ich denke, diese Rechnung ist nicht aufgegangen. Die rechtskonservative Iyi-Partei zieht Stimmen der MHP und der AKP weg und das bringt die Regierungsmaßnahmen durcheinander. Das was jetzt passiert, sind Versuche der Regierung, doch wieder genug Stimmen für sich zu mobilisieren oder die Gegner einzuschüchtern. Die Umfragen der letzten Wochen zeigen, dass es im Parlament keine Mehrheit für das Regierungslager geben wird.
Das alles jetzt sind fast schon Notmaßnahmen, um dafür zu sorgen, dass die Wahl zumindest in der Stichwahl doch gesichert ist und eine Mehrheit der AKP im Parlament ist.
Die Frage die jetzt wichtig ist: Schafft die AKP es, die HDP-Wähler einzuschüchtern, oder dass die HDP irgendwie von den Wahlen ausgeschlossen wird?
Erwarten Sie weitere Eskalationsstufen?
Ja. Was ohnehin schon stattfindet, wird weiter zunehmen. Es gab
in der westlichen Stadt Edirne eine interessante Geschichte: Dort haben Bürger HDP-Wahlplakate
abgenommen, dann kam die Polizei dazu und hat sich mit den Bürgern auf den
Kompromiss geeinigt, dass die Polizei die HDP-Wahlplakate entfernt und die
Leute wieder nach Hause gehen. Solche Angriffe auf die HDP werden sicher zunehmen. Was auch
nicht ausgeschlossen ist: Dass man die HDP als Partei insgesamt verbietet.
Das ginge?
Das wäre eine Möglichkeit jetzt vor der Wahl. Es herrscht ja
auch Ausnahmezustand im Land. Ich erwarte eher eine Ausweitung
solcher kleineren Angriffe, aber wenn man sich die letzten 3-4 Jahre der Türkei ansieht, ist
eigentlich vieles möglich. Auch ein Parteiverbot der HDP.
Welches Wahlergebnis erwarten Sie denn eigentlich?
Wenn man den Umfragen ein bisschen trauen kann und nicht
massiv Wahlfälschung stattfindet, erwarte ich eher, dass im Parlament die Opposition mit der HDP eine Mehrheit
bekommt. Trotz der Repressionen. Erdoğan wird in der 1. Runde nicht gewählt werden, aber die
meisten Stimmen bekommen. Und dann geht es in die Stichwahl am 7. Juli gegen
den CHP-Kandidaten Muharrem Ince. Das wäre meine Prognose.
Wäre das für die Opposition trotzdem ein Erfolg?
Ja, weil sie dann im Parlament die Politik des Präsidenten Erdoğan durchaus blockieren können. Es gibt ja die neue Verfassung, die besagt, dass der
Präsident Dekrete erlässt ohne das Parlament, die gelten. Aber wenn das
Parlament zum gleichen Thema ein Gesetz erlässt, wiegt das Gesetz schwerer.
Das heißt: Wenn das Parlament geschlossen gegen die Regierung handelt, kann es die Regierung durchaus in Schwierigkeiten bringen. Aber dann gibt es sicherlich Neuwahlen. Weil das ist kein Zustand der für de Staatspräsidenten akzeptabel wäre. Diese Neuwahlen kann Erdoğan dann einfach ausrufen. Allein.
Wie schätzen Sie die Kandidatin der IYI-Partei Meral Akşener ein?
Für das AKP-Lager ist Akşener eine schwere Kandidatin. Sie
ist rechts-konservativ. Das ist der CHP-Kandidat Muharrem Ince weniger. Aber der kann die
Stimmen der Kurden für sich gewinnen. Das kann eine Akşener nicht. Derzeit sieht es eher danach aus, dass Muharrem Ince bei den Stichwahlen gegen Erdoğan antreten würde.
Denn es gibt auch Wähler die sagen: 'Wir wissen gar nicht, ob in der AKP noch Gülen-Anhänger sind, uns ist das nicht geheuer, aber wir haben Erdoğan, der das für uns durchboxt und sind für Erdoğan trotz der AKP.“ In den Sozialen Medien kann man solche Aussagen bei Erdoğan-Anhängern oft sehen.
Gilt das auch für türkische Wähler, die in Deutschland leben?
Ich glaube, dass es eine Wahl-Müdigkeit gibt. 2015 gab es
Wahlen, dann das Referendum, jetzt wieder Wahlen, bei denen man nicht weiß, ob
Neuwahlen folgen. Wenn man die Social Media Accounts der AKP-Anhänger anschaut,
kann man sehen, dass eine gewisse Wahl-Müdigkeit herrscht. Und es wird dieses Mal sicher schwerer,
sie in die Wahllokale zu bekommen. Das gilt in gleicher Weise auch für
die Opposition. Daher glaube ich,
dass die Wahlbeteiligung in Deutschland eher abnehmen wird.