Als Ikarus mit den selbstgebauten Flügeln seines Vaters Dädalus gen Himmel flog, sagte dieser ihm, er solle nicht zu hoch fliegen. Die Sonne könne die Flügel verbrennen. Nach dem Aufstieg kam der Fall. In der griechischen Mythologie stirbt der Übermütige.
Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnertruppe Wagner, ist diesem Übermut offenbar verfallen. Zu viel hat er sich geleistet. Wird sein Gebilde, das Netz aus Soldaten, Ausbeutern und Goldgräbern, nun verbrennen?
Etwas komplizierter als der Mythos ist die Frage dann doch. Denn hinter Prigoschins Netz steckt mehr als nur sein Leben. Die Wagner-Gruppe war (und ist) eines der wichtigsten Instrumente Russlands. Nicht bloß im Krieg in der Ukraine. Seit Jahren ist Prigoschin in mehreren Ländern des afrikanischen Kontinents unterwegs. Und das inoffiziell im Auftrag Russlands.
Gold, Diamanten, Kaffee, Zucker, Propaganda, geopolitische Machtbestrebungen: Die Wagners leisten viel für Russland. Aber wie geht es weiter?
Der einst enge Vertraute des Präsidenten Wladimir Putin wurde zum Verräter – nahm mit seinen Kämpfern eine russische Stadt ein, machte sich auf in Richtung Moskau.
Keine 24 Stunden dauerte der Aufstand – dann gab es den "Deal": Prigoschin geht ins Exil nach Belarus. Was er (politisch) dafür bekommen hat, dass er nicht weiterkämpfte, bleibt unklar. Straffreiheit für die Meuterei hat man ihm und seinen Söldnern zugesichert.
Nachdem Prigoschin den Deal eingegangen war, setzte er sich in einen Wagen, winkte den Kameras zu, als man ihn aus der russischen Stadt Rostow fuhr. Dann war er mehrere Tage verschwunden. Man fragte sich: Wurde er "liquidiert", wie es Putin ursprünglich befohlen haben soll?
Doch am Montag gab es dann ein Lebenszeichen.
Putin hat unterdessen den Wagner-Kämpfern angeboten, direkte Verträge mit dem Verteidigungsministerium abzuschließen. Das war übrigens auch der ursprüngliche Plan. Bis zum 1. Juli sollten sich alle russischen Freiwilligenverbände dem Verteidigungsministerium untergeordnet haben. Prigoschin hatte angekündigt, sich dieser Anordnung zu widersetzen.
Wird Wagner nun fallen?
Und welche Auswirkungen hätte diese Zerschlagung – vor allem in Bezug auf die Bemühungen auf dem afrikanischen Kontinent?
Rama Yade ist die leitende Direktorin des Afrika-Zentrums des Atlantic Council. Sie schreibt in einem Artikel: "Zweifellos wird sich diese Rebellion auf den afrikanischen Schauplatz auswirken, insbesondere auf Mali, die Zentralafrikanische Republik (ZAR), Libyen und den Sudan."
Es gilt als gesichert, dass Wagner dort aktiv ist. Yade sagt aber auch: "Während bisher die Interessen der russischen Regierung und der Wagner-Gruppe übereinstimmten, werden diese Länder nun mit zwei russischen Akteuren mit rivalisierenden Interessen zu tun haben müssen."
Dies jedoch kann nur geschehen, wenn sich die Kämpfer in Afrika weiter mit ihrem Chef solidarisieren. Sich nicht auf Putins Angebot einlassen. Für den russischen Machthaber ein kompliziertes Unterfangen.
Er weiß, wie einflussreich Wagner in diesen Ländern ist.
In der ZAR ist Präsident Faustin Touadéra gnadenlos abhängig von den Söldnern. Die bieten ihm Schutz. Leibwache. Im Gegenzug lässt er Prigoschins Firma M-Invest Gold- und Diamantenminen kontrollieren.
In Mali nutzt die provisorische Regierung unter Präsident Assimi Goïta die Wagners als militärischen Beistand gegen dschihadistische Gruppen im Land. Auch hier dürfte der Zugang zu Gold das Tauschangebot sein.
In Burkina Faso gibt es offiziell keine Beweise für Wagners Anwesenheit, doch wird gemunkelt, dass Prigoschin Kämpfer dorthin entsendet hat. Das Land ist reich an Rohstoffen wie Gold. Es liegt strategisch im Zentrum des Sahel-Raumes – und ist seit Jahren im Krisenmodus.
Im Oktober putschten Militärs bereits das zweite Mal im Jahr 2022. Russischen Einfluss gibt es allemal, denn die Distanzierung vom Westen – vor allem von Frankreich – und die Nähe zu Russland werden immer deutlicher.
Dann wäre da noch der Sudan. Auch hier behauptet Prigoschin, es gebe dort keinen einzigen Wagner-Söldner. Das Land ist seit Jahren von Unruhen und gewaltsamen Machtkämpfen geprägt. Seit Mitte April kämpfen das reguläre Militär und die sogenannten Rapid Support Forces (RSF), eine paramilitärische Einheit des stellvertretenden Präsidenten Mohammed Hamdan Daglo, gegeneinander.
Prigoschin bot sich an – als Friedensvermittler.
Illegale Waffenlieferungen seitens Russlands, Kämpfertrupps, Propaganda-Kampagnen – Russland (und vor allem Wagner) ist inoffiziell bereits seit Jahren im sudanesischen Geschäft. Auch hier ist Prigoschins Firma M-Invest in Goldgräber-Machenschaften verwickelt.
In Libyen unterstützt Prigoschin den Warlord und Rebellengeneral Chalifa Haftar. Liefert zudem Raketen.
Fällt all das weg, könnte Moskau ein Problem bekommen. Zwar finanziert Russland den Krieg in der Ukraine nicht direkt mit den Einnahmen aus dem afrikanischen Kontinent. Doch helfen diese, die westlichen Sanktionen auszugleichen. Auch die durch Prigoschin aufgebauten Propaganda-Kanäle sind wichtig für Putin und seinen geopolitischen Einfluss.
Moskau hingegen könnte versucht sein, die Lieferungen auf dem Kontinent zu unterbrechen, um Macht zu demonstrieren. Denn: Die Militärregierungen verlassen sich auf Wagner-Söldner, schreibt die Expertin Yade. Eine Machtdemonstration seitens Putins könnte etwa Mali und die ZAR dazu zwingen, sich von Prigoschin zu distanzieren.
"Entwarnung" gibt hier aber laut Ulf Laessing. Er leitet das "Regionalprogramm Sahel" in Mali für die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung. Auf watson-Anfrage sagt er: "Der gescheiterte Wagner-Aufstand ändert erst mal nichts am militärischen Engagement Russlands in Afrika." Sollte Wagner nicht als Firma überleben, sagt er, werden die Einnahmen dann direkt an den russischen Staat gehen. "Das ändert aber erst mal nichts an der Stationierung der Söldner."
Laut Laessing ist am Freitag offenbar erneut eine russische Transportmaschine in der Hauptstadt Bamako gelandet, um neues Personal und Material heranzuschaffen. "Das Flugzeug kommt regelmäßig, aber der letzte Flug zeigt, dass aus russischer Sicht 'business as usual' gilt." Russland brauche wegen der westlichen Sanktionen dringend Geld. Deshalb geht der Experte davon aus, dass Moskau die Verträge in Mali, der ZAR, Sudan und Libyen erfüllen wird.
Und er sagt auch:
Es dürfte Russland demnach aber schwerfallen, neue Verträge für Wagner-Kämpfer abzuschließen. Moskau buhle seit einer Weile um die Gunst Burkina Fasos. Dort sei man bisher skeptisch, auch weil die Erfolge beim Nachbarn Mali ausbleiben. Diese Skepsis dürfte laut Laessing mit dem Wagner-Aufstand noch steigen. "Russland präsentiert sich gern mithilfe von Desinformation als stabiler und verlässlicher Partner. Die Bilder von Straßensperren vor Moskau und eines Rebellenkonvois dürften Russlands Image beschädigen."
Und genau das, meint der Experte, sollte der Westen für sich nutzen. Dies sei eine Chance für westliche Staaten, sich als Partner in Afrika anzubieten.
Die Gruppe Wagner, meint Laessing indes, werde wohl in irgendeiner Form bestehen bleiben. Und falls Prigoschin den Putschversuch politisch nicht überleben sollte, werde Russland jemand anderen mit den Wagner-Geschäftsinteressen beauftragen. "Die Einnahmen wird sich Moskau nicht entgehen lassen."