46 Tage sind vergangen, seitdem der russische Präsident Wladimir Putin seine Armee in die Ukraine einmarschieren ließ.
46 Tage Leid und 46 Tage Tod.
Diese sechs Wochen des russischen Angriffskriegs in der Ukraine hinterlassen auch Spuren im Gesicht des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Er ist gezeichnet vom Krieg.
Auf Twitter waren die Nutzerinnen und Nutzer in diesen Tagen entsetzt über das Aussehen Selenskyjs. "41 Tage liegen zwischen diesen beiden Bildern", schreibt die ukrainische Journalistin Katya Gorchinskaya über die beiden Aufnahmen des ukrainischen Präsidenten. Das linke Foto zeigt ihn einen Tag vor der russischen Invasion Ende Februar und auf der rechten Seite ist er nach dem Leichenfund in Butscha zu sehen.
Am Wochenende des Leichenfunds in Butscha ist noch ein weiterer Wandel zu erkennen: ein Wandel in Selenskyjs Rhetorik.
In den vergangenen Wochen wendete sich der ukrainische Präsident immer wieder mit diplomatischen Worten auf Russisch an die Menschen in Russland. Er forderte zum Beispiel, damit aufzuhören, die Menschen in "Wir" und "Die" aufzuteilen. "Wir sind verschieden, nur ist das der Grund, zu Feinden zu werden?", fragte er die russische Bevölkerung einen Tag nach des Überfalls der Ukraine in einer Rede auf Russisch.
Heute sind es nur noch wenige, dafür aber umso deutlichere Worte:
Diese Sätze schrieb der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Instagram unter Fotos aus Butscha.
Die Fotos zeigen leere Straßen, mit Leichen übersät. Massengräber, aus denen gefesselte Hände und Köpfe von Leichen ragen – und Menschen, die das Ausmaß der Situation vor Ort erfassen wollen.
Selenskyj hat bereits mehrfach davor gewarnt, dass Butscha kein Einzelfall ist und bleiben wird. Nachdem die russischen Truppen offenbar aus der Nordukraine abgezogen wurden, bewahrheitete sich diese Vorhersage: In Borodjanka, nur 25 Kilometer vom Kyiwer Vorort Butscha entfernt, wurden in dieser Woche nach ersten Angaben 26 Leichen unter den Trümmern zweier Hochhäuser geborgen.
Selenskyj sagt in einer Videoansprache auf Telegram und Facebook am Donnerstagabend, Borodjanka sei "viel schrecklicher" als Butscha. Er befürchtet weitaus höhere Opferzahlen und eine weitere Gräueltat Russlands.
Es ist schon fast zu einem Ritual geworden, dass Selenskyj am Ende eines jeden Kriegstages auf Social Media eine Videobotschaft für die ukrainische Bevölkerung hochlädt.
Und auch vor den verschiedenen Parlamenten der EU-Staaten hält Selenskyj beinahe täglich eine Rede. Spricht in immer drastischeren Sprachbildern und erklärt das Leid des Angriffskriegs in der Ukraine in scharfen Worten.
Zum Wochenbeginn hat Wolodymyr Selenskyj zum ersten Mal seit der russischen Invasion vor dem UN-Sicherheitsrat gesprochen.
Er fordert in seiner Rede einen Ausschluss Russlands aus der Uno. Als ständiges Mitglied hat das Land dort ein Veto-Recht. Deshalb kann die Uno keine Friedenstruppen in die Regionen in der Ukraine schicken.
Direkt an den Sicherheitsrat gewandt, sagte er: "Ihr seid nicht mehr handlungsfähig, wenn ein UN-Mitgliedsstaat mit einem Veto alles blockieren kann." Und wenn ein Veto Sterben für die Menschen in der Ukraine bedeute, sei der Sicherheitsrat überflüssig.
Selenskyj machte deutlich: "Die Frage ist, seid ihr in der Lage, euch zu reformieren? Dann tut es und kümmert euch um das Veto." Wenn nicht, sollte der Sicherheitsrat besser aufgelöst werden.
In dieser Rede hat Selenskyj den Druck auf die Institution erhöht und zugleich vielen aus dem Herzen gesprochen. Dass seine Forderungen aber umgesetzt werden, gilt als unwahrscheinlich. Bisher wurde Russland nur aus dem UN-Menschenrechtsrat ausgeschlossen.
Selenskyj spricht in dieser Rede auch von einer Willkürlichkeit Russlands. Man würde aus Spaß Menschen mit Panzern überfahren, Menschen von Fahrrädern schießen. Um das Leid zu untermauern, dass die Ukraine erfahren muss, wird ein Video eingespielt. Unverpixelt. Es zeigt die vielen Toten in den ukrainischen Städten seit der russischen Invasion.
Beobachterinnen und Beobachter Selenskyjs sehen seit dem Leichenfund in Butscha eine Änderung in seiner Sprache und der Art und Weise, wie er seine Forderungen gegenüber anderen Politikerinnen und Politikern formuliert. Eine von ihnen ist die ukrainischstämmige Forschungsbeauftragte Valeria Korablyova im Fachbereich Osteuropastudien an der Karls-Universität in Prag. Für watson hat sie den Wandel der Rhetorik Selenskyjs in den vergangenen Woche beschrieben.
"In den meisten seiner Reden und Fernsehinterviews präsentiert sich Selenskyj menschlich und nicht als Berufspolitiker", sagt Korablyova gegenüber watson. Er zeigt sich also emotional und am Boden zerstört und nicht zurückhaltend, wie man es von vielen Politikerinnen und Politikern gewohnt ist.
Selenskyj würde mit dieser Haltung unter anderem die Stimmung auf Social Media widerspiegeln. "Seine Rhetorik verändert sich, weil sich die Umstände ändern", sagt Korablyova. Der Auslöser hierfür ist laut der Forscherin der Leichenfund in Butscha. Er hätte eine neue Dimension des Kriegs eröffnet.
Dennoch bleibe sich Selenskyj seiner Kommunikation treu. "Es handelt sich um eine Änderung in der Rhetorik von Selenskyj, aber nicht um eine Kehrtwende", sagt Korablyova. Er hätte die ganze Zeit über die Menschen um sich herum und sein Publikum gespiegelt.
"Gegenüber Russland ist Selenskyj reaktiv und nicht proaktiv", sagt die Forscherin. Er spreche Putin oder hohe russische Beamte nie direkt an. Stattdessen konzentriere er sich unter anderem auf die Gräueltaten Russlands. Sowie auf die zu erwartende Lebensmittelknappheit als Folge der Taten des Kremls.
Anders gehe er mit Politikerinnen und Politikern westlicher Staaten um. "Er nimmt eine harte politische Haltung ein und fordert sie zum Handeln auf", erklärt Korablyova. Hier verhalte sich Selenskyj wie ein Politiker und bediene sich infolgedessen auch einer harten Rhetorik.
Bei Reden wie vor dem UN-Sicherheitsrat bedient sich Selenskyj eines weiteren rhetorischen Kniffs: Er lässt andere Stimmen zu Wort kommen, beziehungsweise Aufnahmen von vor Ort für sich sprechen. Aber auch positiven Botschaften versucht der ukrainische Präsident in seinen Reden Platz zu geben, erklärt Korablyova. Er betone immer wieder die Tapferkeit der ukrainischen Soldaten und Ärzte und rufe zum Frieden und nicht etwa zu Vergeltung auf.
Korablyova sagt: "Selenskyj bleibt dem Bild eines Führers treu, der den Frieden anstrebt, aber gezwungen ist, sein Land zu verteidigen."