Seit mehr als zwei Jahren wehrt sich die Ukraine gegen den russischen Angriffskrieg.Bild: imago images / Andriy Andriyenko / zuma press
Analyse
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine dauert seit mehr als zwei Jahren an. Es ist ein Krieg, der nicht nur militärisch geführt wird. Denn der Aggressor Russland versucht, gegen alles vorzugehen, was die Ukraine ausmacht. Dazu zählen auch die Kultur und die Identität der Ukrainer:innen.
Menschenrechtsorganisationen warnen, dass in den von Russland besetzten Gebieten die ukrainische Kultur unterdrückt werde; man gehe etwa gegen die Sprache und Geschichte des Landes vor.
Der Kreml setzt dort an, wo es am effektivsten ist: bei Kindern. Laut "Amnesty International" gelten in den von Russland besetzten Gebieten an Schulen Lehrpläne und Bücher nach russischem Muster.
Die Schüler:innen lernen, dass der russische Angriffskrieg gerechtfertigt und die Krim immer russisch gewesen sei. In Jugendgruppen müssen Minderjährige russischen Patriotismus zeigen.
Die russischen Denkmuster, die russische Propaganda, sie sollen in die Köpfe der Generation von morgen. Doch die Ukrainer:innen wehren sich.
Wladimir Putin geht unerbittlich gegen die Ukraine vor.Bild: Pool Sputnik Kremlin / Vyacheslav Prokofyev
Das Aufblühen der ukrainischen Sprache im Ukraine-Krieg
Der Ukrainerin Tetyana Filevska zufolge war der Angriff Russlands ein Weckruf für viele Ukrainer:innnen. "Nach dem 24. Februar wurde vielen Menschen klar, dass sie sich nicht mit dem Aggressor in Verbindung bringen wollten", sagt die Expertin für Dekolonisierung vom Ukrainischen Institut in Berlin. Es habe vor allem jene wachgerüttelt, die sich bis dahin der imperialen russischen Gewalt nicht bewusst gewesen waren und selbst Opfer der Russifizierung wurden.
"Ukrainisch wurde zu einer Sprache der mutigen und kreativen Menschen."
Dekolonisierung-Expertin Tetyana Filevska
"Die Brutalität der russischen Armee in der Ukraine führte dazu, dass viele Menschen jede Verbindung zu allem Russischen abbrechen wollten", sagt sie auf watson-Anfrage.
Einer der ersten Ansatzpunkte: die Sprache.
Viele Menschen hörten auf, Russisch zu sprechen, selbst wenn sie Russisch als ihre Muttersprache betrachteten – wie etwa in vielen östlichen oder südlichen Gebieten der Ukraine.
So auch der Ukrainer Rost (Name geändert), der in einem früheren watson-Gespräch betonte, nur noch Ukrainisch sprechen zu wollen.
Zudem wolle er an die Front ziehen, um die Tradition und Geschichte des Landes zu schützen. "Meine zukünftigen Kinder sollen in meinem Land aufwachsen", sagte der heute in der ukrainischen Armee dienende Soldat.
"Im Allgemeinen fragen sich mehr Menschen, wer sie sind und warum sie die Sprache sprechen, die sie sprechen", sagt Filevska. Es habe ein Umdenken eingesetzt. "Ukrainisch wurde zu einer Sprache der mutigen und kreativen Menschen", führt sie aus. Junge Leute lassen sich laut ihr Tattoos mit Zitaten ukrainischer Schriftsteller:innen stechen, weil es cool sei.
Die Ukrainerin Tetyana Filevska setzt sich mit dem Thema Dekolonisierung auseinander.Bild: bild / Danylo Pavlov
Künstler:innen begannen zunehmend, Lieder und Bücher auf Ukrainisch zu schreiben. "Das heißt aber nicht, dass in der Ukraine niemand Russisch spricht. Die Menschen sind hier frei, jede Sprache zu sprechen."
"Wir Ukrainer haben verschiedene traumatische Erfahrungen durchlebt."
Ukrainerin Tetyana Filevska
Auf der anderen Seite war das nicht immer so. In der "Sowjetukraine" konnte man laut ihr nur auf Russisch eine höhere Ausbildung erhalten oder bestimmte Berufe ausüben. Zu verschiedenen Zeiten sei es verboten gewesen, Bücher auf Ukrainisch zu veröffentlichen, zu unterrichten oder Theater zu spielen.
Die ukrainische Sprache war also in angesehenen Kreisen verpönt, "sodass ihr das Klischee einer 'Bauernsprache' anhaftete".
Dieser Rückblick zeigt: Der Kampf der Ukrainer:innen um ihre Identität begann nicht erst 2022.
Russland stets im Nacken: der lange Kampf der Ukraine um ihre Identität
Zu verschiedenen Zeiten der Geschichte wurde das Land kolonialisiert. "Das bedeutet, dass wir Ukrainer verschiedene traumatische Erfahrungen durchlebt haben", sagt Filevska. In all dieser Zeit haben Ukrainer:innen ihre Identität durch Kultur und Sprache bewahrt und für die Wiederherstellung ihrer Souveränität gekämpft.
Bis 1991 war die Ukraine etwa von Sowjetrussland besetzt und litt unter dem Roten Terror, sagt die Ukrainerin. Sie erinnert etwa an den "Holodomor", eine absichtlich herbeigeführte Hungersnot, der mehr als vier Millionen Menschen zu Opfer fielen.
"Die Ukrainer waren verängstigt und russifiziert. In den vergangenen 33 Jahren wurde die Ukraine endlich von den imperialen Fesseln befreit", führt Filevska aus.
Laut der Ukrainerin Filevska besitzt ihr Land eine lange Geschichte der Kolonialisierung.bild: Danylo Pavlov
Doch Russland habe weiterhin versucht, die Handlungsfähigkeit der Ukraine einzuschränken, was laut ihr 2014 zu einem Krieg im Osten des Landes, der Besetzung der Krim und 2022 zur umfassenden Invasion führte.
Heute falle daher immer wieder das Wort "Entkolonialisierung" der Ukraine in Verbindung mit dem russischen Angriffskrieg.
Laut Filevska bedeutet das drei Dinge:
- Die ukrainische Geschichte zu verstehen und die wahren Fakten zu erfahren, denn Russland habe die Geschichte verfälscht.
- Sich von den imperialen Attributen und Symbolen der Russifizierung zu befreien.
- Die Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen, um die eigene Zukunft zu bestimmen.
Filevska zufolge arbeiten Ukrainer:innen ihre Herkunft auf. "Wir sprechen viel über unsere persönlichen und familiären Geschichten. Viele Menschen wussten nicht, wer ihre Vorfahren waren, da es gefährlich oder verboten war, darüber zu sprechen", sagt sie.
Die Expertin führt aus:
"Wir lernen die Geschichte unserer Orte kennen. Denn Archive sind in der Ukraine seit 2000 öffentlich zugänglich. Wir diskutieren über unsere Werte und darüber, wie wir unsere Zukunft (neu) gestalten wollen. Die Wahl der Ukraine ist Freiheit, Würde und Gerechtigkeit für alle. Von diesem Punkt aus lernen wir unsere Vergangenheit kennen, entscheiden über unsere Gegenwart und übernehmen Verantwortung für unsere Zukunft."
Die Ukrainer:innen seien aber auch bereit, schwierige und unangenehme Momente in der Geschichte mit ihren Nachbarn und anderen ethnischen Gruppen und indigenen Völkern aufzuarbeiten, sagt sie.
Laut ihr ist die "Entkolonialisierung der Ukraine" nicht nur für die Ukraine, sondern auch für Deutschland wichtig.
Europas Blick auf Russland ist durch "Mythen" und "Fälschungen" getrübt
Die Entkolonialisierung der Ukraine bringe eine andere Perspektive auf Europa und auch auf die Rolle Russlands in der europäischen und globalen Geschichte, sagt Filevska. Denn: "In den Geschichtsbüchern gibt es viele Mythen und Fälschungen. Wenn man die Wahrheit über die Ukraine ans Licht bringt, werden diese Fälschungen zerstört."
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Laut der Ukrainerin wurde Deutschland jahrzehntelang von russischer Propaganda und Desinformation infiltriert und durch russische Öl- und Gasgelder korrumpiert. Dazu werde das Ukrainische Institut in Kürze eine Studie veröffentlichen.
Eine kritische Auseinandersetzung mit der sogenannten "Moskauer Sichtweise" beseitige die Gefahr einer russischen Invasion, die über die Ukraine hinausgeht. "Solch ein Szenario ist realistischer als man denkt", warnt Filevska. Auf russischen Panzern stehe etwa oft der Spruch "To Berlin", "und das ist nicht nur ein Scherz".
Die Ukraine ist laut ihr die Antwort auf viele Fragen der Vergangenheit und Zukunft Europas.