Februar 2022: Russland war keine drei Tage in die Ukraine eingefallen, da gab es bereits die ersten Berichte: "Einsatz von Streumunition"; "Mutmaßliches Kriegsverbrechen".
Die Welt war schockiert. Viele Medien berichteten vom geächteten Waffensystem. Nach jedem russischen Angriff mit Streubomben – auch Clustermunition genannt –, wiederholten sich TV- und Radiosender: Russland mache sich strafbar.
Doch so einfach war es von Anfang an nicht. Schon im Februar 2022 hatte der Schweizer Militär-Experte Niklas Masuhr gegenüber watson erklärt: Es sei möglich, dass auch die Ukraine Streumunition verwenden wird. Nun hat sich diese Prognose bestätigt.
Die Ukraine hat längst mit dem Einsatz von Clusterbomben begonnen. Diese hat das Land von den USA bekommen.
Und der Aufschrei ist – wenn überhaupt – überschaubar.
Expert:innen erklären in Radiointerviews, dass der Einsatz gerechtfertigt sei, dass die Ukraine das Clusterabkommen von 2008 nicht unterschrieben habe – sich also nicht strafbar mache.
Das ist richtig. 2008 haben mehr als 100 Staaten die Streubomben-Konvention unterschrieben: ein Abkommen, das die Verwendung, Herstellung, Weitergabe und Lagerung von Streumunition verbietet. Weder Russland noch die Ukraine oder die USA sind Teil davon.
Warum aber haben wir Russland so deutlich verurteilt – die Ukraine hingegen nicht? Messen wir mit zweierlei Maß?
Wahrscheinlich schon, wie Experten auf watson-Anfrage erklären. Doch ob wir deshalb scheinheilig debattieren, ist fraglich.
Völkerrechtlich sind weder Russland noch die Ukraine für den Einsatz von Streumunition zu belangen. Wichtig ist das Ziel. Werden zivile Ziele beschossen oder wird in Kauf genommen, dass Zivilist:innen verletzt oder getötet werden, könnte dies als Kriegsverbrechen gewertet werden. Dass Russland bewusst und auf brutale Weise zivile Ziele angreift, ist weithin bekannt.
Doch der Einsatz von Streumunition hat in diesem Zusammenhang wenig mit dem Verbrechen selbst zu tun. Denn: Die Regelung über die Angriffsziele gilt im Kriegsrecht auch für die Nutzung jedes anderen Waffensystems.
"Völkerrecht und die Ethik des Krieges sind nicht dasselbe", erklärt Militärethiker Florian Demont auf Anfrage von watson. Demont lehrt an der Militärakademie der Universität ETH Zürich.
Dass die Ukraine von Kriegsverbrechen spricht, wenn Russland Clustermunition einsetzt, ist naheliegend. Denn, wie Demont sagt, haben "alle Akteure ein starkes Interesse daran, in gutem Licht dazustehen und unterstützt zu werden". Bei der strategischen Kriegskommunikation würden daher sowohl Kriegsvölkerrecht als auch moralische Prinzipien des gerechten Krieges verwendet.
Propaganda und Parteiempfinden sind dabei Demont zufolge wesentliche Faktoren. Er sagt: "Es ist unrealistisch, anzunehmen, dass hier unparteiisch geurteilt wird."
Lassen wir uns also manipulieren?
Natürlich dient es der Ukraine, wenn die Grundstimmung westlicher Länder ihnen gegenüber positiv und Russland gegenüber negativ ist, sagt Demont. Beide Parteien steuern demnach ihre Kommunikation so, dass sie zu ihrer Kriegsplanung passt. "Das ist aber noch keine Manipulation", sagt der Experte. "Zur Manipulation kommt es erst, wenn sich andere Parteien manipulieren lassen."
Die eigentliche Frage ist also laut Demont, ob wir die Verantwortung für unsere Meinungsbildung wahrnehmen. Dabei müssten wir uns darüber im Klaren sein, dass wir nicht frei von Sachzwängen und Beeinflussungsversuchen seien. "Wir sind in das Kriegsgeschehen involviert und müssen so denken und handeln, dass wir auf lange Sicht hin vorwurfsfrei bleiben."
Klar ist, die Mehrheit der westlichen Bevölkerung stellt sich auf die Seite der Ukraine in diesem Angriffskrieg. Die Ukraine ist Opfer eines imperialistischen Machtstrebens – und das Land wehrt sich gegen seinen Angreifer. Interpretiert man Demonts Aussage so, dass wir als parteiische Beobachter:innen agieren, ist nur zu verständlich, dass wir unserer Partei Fehltritte verzeihen.
Ähnliches gilt dann auch für den Einsatz von Streumunition – den im Übrigen eine Mehrheit der Deutschen ablehnt.
Im Auftrag von watson hat das Meinungsforschungsunternehmen Civey 5000 Menschen gefragt, ob sie den Einsatz von Streumunition angebracht finden. 67 Prozent der Befragten findet den Einsatz unangebracht. 18 Prozent hält ihn für angebracht.
Auch interessant: Mehr als ein Fünftel der Befragten (22 Prozent) findet, dass sich die Angemessenheit des Einsatzes von Streumunition unterscheidet, je nachdem, welche Seite sie nutzt.
Die Frage nach der Scheinheiligkeit ist laut dem Vorsitzenden des Arbeitskreises Militär und Sozialwissenschaften, Martin Elbe, sehr berechtigt. "Und tatsächlich scheint hier mit zweierlei Maß gemessen zu werden", schreibt der Militärethiker auf Anfrage von watson.
Doch es kommt auf die Perspektive an.
Alles eine Frage der Abwägung. Gesinnungsethik trifft auf Verantwortungsethik. Heißt: Durch den Einsatz von Streumunition vermischen sich zwei Grundsatzprinzipien der Militärethik. Der Waffeneinsatz gilt nach der Abwägung als zielführend und gerechtfertigt – das ist der gesinnungsethische Anteil. Führen die ukrainischen Streitkräfte tatsächlich nur Einsätze gegen militärische Ziele durch, sei auch der verantwortungsethische Anteil gegeben.
Elbe sagt: "Die Beurteilung der Frage, ob hier mit zweierlei Maß gemessen wird, hängt offensichtlich vom Messinstrument ab – und davon, wohin man damit blickt."
Die Ukraine hat in Sachen Streumunition Zusagen gemacht – und sich selbst Auflagen gegeben. Verteidigungsminister Oleksii Reznikov hatte diese bei Twitter veröffentlicht:
Bei der Minenräumung wird es aber komplex. Nicht explodierte Bombets graben sich oft in den Boden ein. Wo und wie viele Bomblets vergraben sind, wird auch nach Kriegsende nie genau definiert werden können.
Diese Tatsache steht laut dem Militärethiker Demont im Spannungsverhältnis zur Haltung westlicher Militärkulturen, die eine "chirurgische Präzision bevorzugen, um militärische Ziele zu erreichen". Dabei geht es eben darum, die Konsequenzen militärischer Gewalt möglichst genau zu kontrollieren. Er sagt:
Dann wären da noch die Blindgänger. Eine solide Friedensordnung könne mit ihnen kaum gegeben sein, "weil auf lange Sicht hin Gefahren für das zivile Leben nach dem Konflikt geschaffen werden".
Die Ukraine zahlt also einen hohen Preis für den Einsatz einer geächteten Waffe. Hat man Kosten und Nutzen sorgsam abgewogen? Demont sagt: "Der Preis für eine höhere militärische Effizienz wird in diesem Fall durch eine teilweise Absage an eine friedliche Nachkriegsordnung bezahlt. Vor dem Hintergrund eines Kampfes für die Freiheit ist das eine besorgniserregende Entwicklung."