Die Europawahl löste ein politisches Erdbeben in Frankreich aus. Die Rechtspopulisten des Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen gingen als klare Sieger hervor. Der französische Präsident Emmanuel Macron reagierte mit einem drastischen Schritt: Er löste das Parlament auf und kündigte Neuwahlen an.
Was für ein Paukenschlag, denn damit bittet Macron die Menschen in Frankreich bereits in knapp drei Wochen zur Wahlurne. Mit so raschen Neuwahlen haben wohl nicht einmal die Rechtspopulist:innen gerechnet, die regelmäßig nach jeder Wahl die Auflösung der Nationalversammlung fordern.
Auch für den Frankreich-Experten Jacob Ross kommt der Schritt von Macron überraschend. Laut ihm waren selbst engste Vertraute von Macron nicht eingeweiht. "Sein Premier Gabriel Attal versuchte offenbar noch, den Präsidenten umzustimmen", sagt Ross auf watson-Anfrage.
Attal habe Macron seinen Rücktritt angeboten als Konsequenz des schwachen Wahlergebnisses bei der Europawahl. Doch am Ende entspreche dieser drastische Schritt dem Politikstil von Macron, führt Ross von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) aus.
Laut ihm will Macron die absolute Kontrolle über die politische Agenda beanspruchen.
"Macron möchte mit der Entscheidung verhindern, dass er mittelfristig zur Lame Duck der französischen Politik wird", sagt er. "Lame Duck" (auf Deutsch "lahme Ente") im Sinne eines Präsidenten, der diese Wahl krachend verloren hat und 2027 zur Präsidentschaftswahl nicht mehr antreten kann.
Einerseits sei Macron getrieben von den Rechtsnationalen, andererseits werde er zunehmend von Verbündeten belauert, die auf seine Nachfolge spekulieren. "Mit der Auflösung der Nationalversammlung und der Neuwahl setzt er jetzt alles auf eine Karte – eine äußerst riskante Strategie", meint Ross.
Zur Erinnerung: Fast ein Drittel aller Wählenden votierte für die europakritische Partei RN. Macrons pro-europäisches Lager holte lediglich 15 Prozent. Rechtspopulistin Le Pen steht schon in den Startlöchern und betont ihren Willen zur Machtübernahme. "Wir sind bereit, die Macht auszuüben, wenn die Franzosen uns bei diesen künftigen Parlamentswahlen ihr Vertrauen schenken", sagt sie.
Der RN könnte einen legitimen Anspruch auf den Posten des Ministerpräsidenten stellen, sagt Ross. Zunächst müsste die Partei bei der Wahl am 7. Juli eine Mehrheit erreichen. Oder: Macron gelänge es nicht, mehr eigene Abgeordnete oder aber neue Verbündete für eine stabile Mehrheit zu gewinnen.
"In der sogenannten Kohabitation muss Macron dann als Präsident mit dem Premier des RN umgehen, der vermutlich Jordan Bardella hieße", meint Ross. Unter Kohabitation versteht man die Zusammenarbeit des Staatspräsidenten mit einer Regierung einer anderen politischen Richtung.
Ross zufolge unterstellen viele Beobachtende Macron, diese Konstellation billigend in Kauf zu nehmen. "Er wolle versuchen, die Schwächen und unzureichende Regierungserfahrung Bardellas und des RN herauszustellen und die Partei so bis zur Präsidentschaftswahl 2027 zu demontieren", führt er aus.
Ross zufolge ist es aber absolut fraglich, ob diese Strategie aufgeht. Er erklärt:
Laut der französischen Zeitung "Le Monde" ist das Risiko für Macron extrem hoch, darin sind sich viele Expert:innen einig. "Es gibt ein düsteres Szenario: Der RN könnte sich diesen Sommer des Amtes des Premierministers bemächtigen und 2027 den Elysée erobern", resümiert die Zeitung.
Fakt ist: Der Versuch Macrons, die Europawahl zu einem Zweikampf zwischen den pro- und anti-europäischen Kräften zu stilisieren, ist Ross zufolge gescheitert.
"Der Wahlkampf war eine Abstimmung für oder gegen Macron, die der Präsident klar verloren hat", sagt der Experte. Anders als in vergangenen nationalen Wahlkämpfen sei Macron eher eine Belastung für seine Bewegung und ihre Spitzenkandidatin, Valérie Hayer.
Dem RN ist es laut Ross hingegen gelungen, als einzige Partei eine Vorfreude auf die Wahl auszustrahlen.
Ihr Slogan für den Wahlkampf, "Es lebe der 9. Juni", vermittelte laut Ross eine Aufbruchsstimmung und eine positive Besetzung mit dem Wahltermin. Andere Parteien, vor allem Macrons Partei und ihre Verbündeten, hätten vor allem gegen den RN Wahlkampf geführt: gegen dessen "anti-europäische" Positionen, ihre angebliche Nähe zu Russland, ihre Positionen mit Blick auf die Ukraine.
"Die französischen Wähler sind es aber leid, gegen etwas zu stimmen, auch, wenn es eine Stärkung des RN bedeutet", sagt Ross. Auch die Strategie Macrons, den Krieg in der Ukraine prominent in den Wahlkampf aufzunehmen, sei gescheitert. Dass er es versucht hat, überrascht den Experten aber wenig.
"Der Beginn des Kriegs in der Ukraine im Februar 2022 bedeutete nüchtern betrachtet eine riesige Wahlkampfhilfe", meint Ross. Schließlich füllt Macron eine Doppelrolle als Staatschef und Oberbefehlshaber der Streitkräfte aus.
Laut Ross haben ihm seine offensiven Positionierungen gegenüber Russland im Wahlkampf eher geschadet. Eine Mehrheit der Franzosen und Französinnen befürworte zwar die Unterstützung der Ukraine, aber:
Zudem sind die bestimmenden Wahlkampfthemen laut Ross andere gewesen, etwa:
Was jetzt Frankreich bevorsteht, sei ein "Wahlkampfrausch", schreibt Célia Belin in einer Pressemitteilung des European Council on Foreign Relations (ECFR).
Belin führt das Büro in Paris und prognostiziert, dass die Wahl die internationalen Gipfeltreffen in den kommenden Wochen überschatten werde. Im Juni folgen etwa der G7-Gipfel in Italien, der Friedensgipfel für die Ukraine in der Schweiz und der EU-Rat.
Kurzfristig beeinträchtige die Ungewissheit über das politische Schicksal Macrons Partei enorm den Einfluss des Präsidenten in Europa. Langfristig gesehen könnte "Macrons Glücksspiel" aufgehen. Wenn der RN etwa scheitert, eine Mehrheit zu erreichen. Auch eine Koalition wäre bereits ein Erfolg für Macron, meint die Expertin.
Mit beiden Szenarien betrete Frankreich allerdings Neuland. "Die Pläne des RN für Europa sind nach wie vor unausgereift, ungeschliffen und bisweilen widersprüchlich", sagt Belin. Frankreichs Stimme würde wahrscheinlich eine Zeit lang in den Hintergrund treten und damit eine wichtige Kraft für ein geeintes Europa.
Gerade in Zeiten der Krisen wäre das für Europas Zukunft fatal und für Kreml-Machthaber Wladimir Putin ein Gewinn. Ein geschwächtes Europa stehe dann der russischen Aggression, einer möglichen Rückkehr des verurteilten Verbrechers Donald Trumps ins Weiße Haus und China als wachsende Konkurrenz gegenüber.
Doch am Ende wolle Macron zeigen, dass er "die Dinge im Griff hat", schreibt die Zeitung "Le Monde". Er dürfte darauf hoffen, dass bei der Parlamentswahl, die in zwei Runden stattfindet, der alte RN-Abwehrreflex der Wählenden und der anderen etablierten Parteien noch funktioniert.
(Mit Material der afp)