Mit den Olympischen Spielen lädt Frankreich die Welt bei sich zu Gast ein – in ein Land, das politisch gesehen gerade in der Schwebe hängt. Nach den frühzeitigen Neuwahlen ist noch immer keine Regierungsbildung in Sicht. Premierminister Gabriel Attal tritt zurück. Wer seinen Posten einnimmt, ist ungewiss.
Präsident Emmanuel Macron behält die bisherige Regierung geschäftsführend im Amt, bis eine neue ernannt wird; die Hängepartie könnte sich in die Länge ziehen. Inmitten dieser politischen Turbulenzen will sich Frankreich als Gastgeber der Olympischen Sommerspiele 2024 präsentieren.
"Ein Großteil der internationalen Besucher und der Zuschauer der Spiele in Frankreich wird von den Verwerfungen in der französischen Innenpolitik aber kaum etwas mitbekommen", versichert Frankreich-Experte Jacob Ross auf watson-Anfrage. Allerdings macht ihm ein Punkt Sorgen.
Laut Ross könnte es zu Sicherheitsvorfällen oder großen Demonstrationen kommen. "Einige Vertreter der linken Volksfront haben zum Beispiel in den vergangenen Tagen angekündigt, die Spiele als politische Bühne nutzen zu wollen, sollten ihre Forderungen kein Gehör finden", führt der Experte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik aus.
In den vorgezogenen Parlamentswahlen holte das Linksbündnis den Sieg. Der rechtsnationale Rassemblement National (RN) von Marine Le Pen schnitt deutlich schlechter ab als angenommen. Doch weder das linke Bündnis Nouveau Front Populaire (NFP) noch Macrons Partei oder der RN erreichen eine absolute Mehrheit. Frankreich betritt Neuland und muss nun eine Koalition bilden.
Und das gestaltet sich nicht so einfach.
"Macron hat durch seine eigene Entscheidung, Neuwahlen auszulösen, die Innenpolitik in den Vordergrund dieser Spiele gerückt", meint Ross. Damit werde es die ganz große internationale Friedensbotschaft, die Macron mit den Spielen in die Welt senden wollte, nicht geben. "Er warb immer wieder zum Beispiel für eine 100-tägige Waffenruhe in weltweiten Konflikten", fügt der Experte an.
Zudem werde mit der Eröffnung der olympischen Spiele am 26. Juli der Druck auf die Regierung – die nur noch kommissarisch im Amt ist – wachsen.
Laut Ross steht hier vor allem der Innenminister Gérald Darmanin als verantwortlicher Minister für die innere Sicherheit im Zentrum der Aufmerksamkeit.
Er führt aus:
Frankreich befindet sich laut Ross nicht in einem politischen Stillstand – im Gegenteil. Fast alle wichtigen Politiker:innen des Landes seien vollauf damit beschäftigt, sich neu zu positionieren, Bündnisse zu schmieden und die Zeit nach Macron vorzubereiten.
"Allerdings handelt es sich hierbei um politische Machtspiele hinter den Kulissen, die keines der Probleme lösen, die französische Wähler umtreibt", erklärt der Experte. Deren Unmut könnte deshalb weiter wachsen.
Zur politischen Unsicherheit und der Sorge vor Terror-Anschlägen komme aktuell noch die wieder aufgeflammte Gewalt in Neukaledonien.
Abseits der Öffentlichkeit hat sich die Lage laut Ross in Neukaledonien wieder zugespitzt, auch mit Todesopfern. Zum Hintergrund: Im Mai kam es in dem französischen Überseegebiet Neukaledonien wegen einer geplanten Reform zu schweren Ausschreitungen. Frankreich rief kurzzeitig den Ausnahmezustand aus und entsendet nun weitere Einsatzkräfte.
Einheiten, die nun bei den Olympischen Sommerspielen fehlen werden.
Bei den Olympischen Spielen sollen dem "Deutschlandfunk" nach 70.000 Sicherheitskräfte zum Einsatz kommen, darunter 35.000 Polizist:innen und 15.000 Soldat:innen. Im Land gilt die höchste Terrorwarnstufe. Das französische Innenministerium habe andere Staaten um die Bereitstellung von Personal gebeten.
Denn: "Viele Gendarmerie-Einheiten, eigentlich für die Sicherung der Olympischen Spiele eingeplant, sind weiter in Neukaledonien im Einsatz", sagt Ross. Laut "Deutschlandfunk" soll Künstliche Intelligenz (KI) aushelfen.
Frankreich ist damit das erste Land in der Europäischen Union, das eine biometrische, also KI-gestützte Überwachung landesweit zulässt. Vorerst bis März 2025, heißt es. Danach sollen die Erfahrungen bei den Olympischen Spielen ausgewertet werden.
Doch zurück zum politischen Chaos: Wann wird Frankreich hier wieder festen Boden unter den Füßen finden?
Laut Ross ist das kaum absehbar. Nachdem die Fraktionen in der Nationalversammlung nun vorerst feststehen, wird am Donnerstag die Präsidentschaft entschieden.
"Da die Nationalversammlung in der derzeitigen Situation wesentlich stärker im politischen und medialen Fokus steht als sonst, wird von der Wahl dort auch eine Signalwirkung für die nächste Regierung erwartet", sagt der Experte.
Wer sich im Parlament durchsetzt, wird laut Ross wahrscheinlich auch für die Regierungsbildung Wind in den Segeln haben. Es werde mit mehreren Wahlgängen gerechnet. Der Ausgang ist völlig offen.
"Es ist alles möglich", meint der Frankreich-Experte und skizziert drei potenzielle Szenarien:
Es ist demnach unwahrscheinlich, dass politische Ruhe vor dem Start der Olympischen Spiele in Frankreich einkehrt: Sie werden von den politischen Machtspielen in Frankreich überschattet sein.