Brasilien durchlebt eine politische Krise.
Historische Bilder gehen um die Welt: Hunderte Menschen stürmen Regierungsgebäude, darunter auch den Kongress, in der Hauptstadt Brasília. Es sind Bilder, die an den Sturm auf das US-Kapitol erinnern – und die Parallelen sind kein Zufall.
Wie der US-Präsident Joe Biden steht nun auch der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva (Lula) vor der Herausforderung, das gespaltene Land zu einen. Biden und Lula sehen sich im Kampf gegen rechtsextreme Kräfte, angetrieben durch Lügen, unbewiesene Gerüchte und Strategen, die im Hintergrund die Fäden ziehen.
Zwar konnte Lula die Aufstände unter Kontrolle bringen, doch die Lage ist weiter angespannt. "Die Stimmung in Brasilien ist sehr aufgeheizt", sagt auch Anja Czymmeck auf watson-Anfrage. Sie leitet seit August 2019 das Auslandsbüro Brasilien der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung.
Laut Czymmeck lehnt die Mehrheit der Bevölkerung die Ausschreitungen zwar ab, dennoch sorgt das Thema für hitzige Diskussionen in Familien- und Freundeskreisen. Sie sagt:
Doch wer sind diese Bolsonaro-Anhänger:innen überhaupt und was wollen sie erreichen?
"Sie gehören allen Generationen und sozialen Schichten an", erklärt Czymmeck. Unter ihnen tummeln sich auch:
Laut Czymmeck haben sich diese Menschen von Falschnachrichten, Verschwörungstheorien und dem Rechtsextremismus beeinflussen lassen. Dennoch: Nicht alle Anhänger:innen Bolsonaros unterstützten solch radikales Vorgehen. "Es ist wichtig, dabei genau zu differenzieren", meint die in Brasilien lebende Expertin.
Allerdings verherrlichen ihr zufolge viele der Bolsonaro-Anhänger:innen eine mögliche Militärdiktatur. Sie würden diese gern gegen die von Lula angeführte demokratische Regierung eintauschen, sagt Czymmeck.
Lula ist der Expertin zufolge in den Augen der Bolsonaro-Fans ein korrupter, linksextremer Politiker, der Brasilien in den Kommunismus führen möchte. Bereits unmittelbar vor der Amtseinführung von Lula waren die Sicherheitsvorkehrungen verschärft worden, erklärt Czymmeck. Weiter sagt sie:
Laut Czymmeck gab der verhaftete Extremist an, den Anschlag in der Hoffnung geplant zu haben, dass ein Notstand ausgerufen und das Militär die Kontrolle über den Staat übernehmen würde.
Die Amtseinführung am 1. Januar 2023 verlief jedoch friedlich und ohne nennenswerte Zwischenfälle ab. "Sie wurde auch als 'Fest der Demokratie' bezeichnet und als Sieg über den Bolsonarismus von vielen gedeutet", sagt Czymmeck. Doch das Blatt sollte sich rasch wenden.
Unmittelbar nach der Amtseinführung mobilisierten sich über die sozialen Medien landesweit zahlreiche Bolsonaro-Anhänger:innen, um nach Brasília zu reisen. Laut Czymmeck ist bisher unklar, warum die brasilianischen Geheimdienste und Sicherheitsbeauftragten den Angriff auf die demokratischen Institutionen nicht zu vermeiden wussten. Wer hat zum Beispiel die Transport- und Verpflegungskosten für die radikalisierte Menge getragen?
Fragen, die sich auch der brasilianische Präsident Lula stellt.
Auf Twitter schreibt er: "Es ist nicht möglich, dass eine Bewegung so lange andauert, wenn es keine Leute gibt, die sie finanzieren." Er werde dafür sorgen, diese Geldquellen aufzuspüren. Laut Lula ist es für die Brasilianer:innen schwierig gewesen, die Demokratie in diesem Land zu etablieren. "Wir müssen lernen, in Vielfalt demokratisch zusammenzuleben", verkündet er.
Dazu setzt Lula ein Zeichen: Arm in Arm gehen er und die 27 Gouverneure die Rampe des Regierungssitzes Palácio do Planalto hinunter, um die Demokratie in Brasilien zu verteidigen.
Doch wie stark ist diese Arm-in-Arm-Kette wirklich? Der Auftritt inszeniert eine symbolische Einheit, doch in der Realität sitzen viele Bolsonaro-Anhänger:innen in Lulas Regierung.
So wurde der Staatssekretär für innere Sicherheit der Bundeshauptstadt Brasília, Anderson Torres, noch am Tag der Ausschreitungen von seinem Vorgesetzten, Gouverneur Ibaneis Rocha, entlassen. "Gegen Torres wurde ein Haftbefehl erlassen, weil er seiner Pflicht zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit nicht nachgekommen ist", sagt Expertin Czymmeck. Zudem soll ermittelt werden, ob er von den Vorbereitungen des Sturms gewusst habe. Torres befindet sich derzeit im Urlaub in den USA, wo sich auch Bolsonaro aufhält.
Auch Gouverneur Rocha wurde infolge der Eskalation vom Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, Alexander de Moraes, mittlerweile suspendiert. "Des Weiteren wird gegen Politiker niedrigerer Regierungsebenen und Militärpolizisten ermittelt, die die Ausschreitungen aktiv unterstützt oder absichtlich nicht unterbunden haben sollen", erklärt Czymmeck. Weiter sagt sie dazu:
Angesichts der angespannten Lage sei eine Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen zur Garantie von Lulas körperlicher Unversehrtheit denkbar.
Vor allem die radikalen Kräfte unter den Bolsonaro-Anhänger:innen zweifeln das Wahlergebnis an, erklärt Czymmeck. Durch den Sturm auf die demokratischen Institutionen wollten sie ihren Widerstand zum Ausdruck bringen. Anders als beim Sturm auf das US-Kapitol sei das Ziel der Stürmer in Brasilien nicht das Annullieren des Wahlergebnisses, sondern das Erwirken eines Militärputsches gewesen. Dieses Vorhaben wurde durch das Einschreiten der nationalen Sicherheitskräfte auf Anordnung von Präsident Lula vereitelt.
Bereits im Vorfeld der Ausschreitungen soll es laut Czymmeck einige Hinweise auf mögliche Vorfälle gegeben haben. So versammelten sich die extremen Bolsonarist:innen schon seit der Niederlage des Ex-Präsidenten bei der Stichwahl am 30. Oktober 2022 vor den Hauptquartieren der Streitkräfte, um einen Militärputsch einzufordern.