Marschieren für den Frieden.
Für die Abrüstung.
Das ist die Idee hinter den Ostermärschen, die 1958 erst in Großbritannien aufkamen und in den 1960er Jahren auch in Deutschland angekommen sind.
Es war die Zeit des Kalten Krieges. Die Zeit der Stellvertreterkriege und der Angst, dass einer der beiden Blöcke – also dem Westen und dem Ostblock – den Knopf drückt, der die ganze Welt in den nuklearen Winter schickt.
Pazifistische Gruppierungen organisierten 1960 den ersten Oster-Sternmarsch in Norddeutschland. Von Hamburg, Bremen, Hannover und Braunschweig aus liefen sie zum Raketenübungsplatz Bergen-Hohne auf der Lüneburger Heide.
In den 68ern wurde die Friedensbewegung zur Massenbewegung – und blieb es eine ganze Weile. Trotz der Entspannungspolitik. In den 80er Jahren gingen Hunderttausende gegen den Nato-Doppelbeschluss auf die Straße.
Dieser Doppelbeschluss beinhaltete die Aufstellung neuer, mit Atomsprengköpfen bestückter Mittelstreckenraketen in Mitteleuropa. Und außerdem bilaterale Gespräche der Supermächte USA und UDSSR über die Begrenzung ihrer atomaren Mittelstreckenraketen in Europa.
Über 50 Prozent der Deutschen unterstützten 1981 die Friedensbewegung. Zwar nahmen nicht alle von ihnen aktiv an Aktionen teil, fanden aber zumindest die Ziele gut. Sie stellten die Abschreckung in Frage, forderten Abrüstung. Zu den klassischen Slogans "Ami go home" oder "Abrüsten statt Aufrüsten" hat sich in den vergangenen Jahren mit Blick auf die Klimakrise "Abrüsten, Klima schützen" gesellt.
Und heute? Zu einer Zeit, in der Krieg in Europa herrscht?
Die Zahl der Kundgebungen ist im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Das sagt Kristian Golla vom Netzwerk Friedenskooperative, das die Ostermärsche bundesweit koordiniert, gegenüber der dpa. Wie viele Menschen dann tatsächlich bei den einzelnen Märschen aufkreuzen, werde sich zeigen.
Denn was die vergangenen Wochen gezeigt haben: Nach den ersten großen Demonstrationen Anfang März ist die Zahl der Menschen auf der Straße zurückgegangen. Bei der Friedensaktion "Sound of Peace" waren statt einer Million erwarteter Besucher gerade einmal 15.000 Menschen vor dem Brandenburger Tor.
Hinzu kommt, dass sich viele Deutsche – auch innerhalb der pazifistischen Linken – für die Lieferung von Waffen aussprechen. Das gilt zum Beispiel für die Grünen, die 1980 auch aus der Friedensbewegung hervorgingen. Anton Hofreiter, aus dem linken Flügel der Grünen, ist vor kurzem in der ZDF-Polit-Talkshow "Markus Lanz" aufgefallen, als er diverse Panzer und Waffen aufzählen konnte.
"Close the sky", ist eine Forderung, die außerdem immer wieder auf Demonstrationen in Deutschland zu hören ist.
Im Klartext hieße das aber: Nato-Staaten müssten russische Kampfflugzeuge abschießen, wenn die über der Ukraine unterwegs sind.
Ein aktiver Eingriff in den Krieg.
Und davor haben die Deutschen eigentlich Angst: Laut einer Umfrage, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa im Auftrag von RTL und n-tv durchgeführt hat, fürchten 69 Prozent der Deutschen einen Dritten Weltkrieg.
Ist es naiv oder sogar schädlich, angesichts der Gräueltaten an Zivilisten in Butscha und ähnlicher Verbrechen für den Frieden zu demonstrieren?
Aus pazifistischer Sicht gilt zunächst einmal: Wer Waffengewalt ablehnt, kann gleichzeitig für gewaltlosen Widerstand eintreten.
Die Bilder unbewaffneter ukrainischer Zivilisten, die russische Panzer zurückdrängten, erinnerten in ihrer Eindringlichkeit an Mahatma Gandhi (1869-1948) und seine Satyagraha-Kämpfer. Gandhi war der Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung – und Pazifist.
Ihm ging es darum, Leid und Schmerz und selbst den Tod auf sich zu nehmen, um damit auf Dauer das Herz des Gegners zu erweichen. Im Kampf gegen das Britische Empire erzielte Gandhi mit dieser Methode spektakuläre Erfolge.
Auf den Einwand, Widersacher wie Hitler-Deutschland würden seine friedlichen Aktionen dagegen kaum beeindrucken, erwiderte er:
Spätestens nach Holocaust und Zweitem Weltkrieg erschien Gandhis Haltung als geradezu sträfliche Realitätsverweigerung. Auch Putin wird man mit gewaltlosem Widerstand kaum beikommen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) fordert deshalb, Deutschland müsse auch schwere Waffen an die Ukraine abgeben. Das heißt konkret: Panzer, Kampfjets, Kriegsschiffe oder Artilleriegeschütze.
Die breite Bereitschaft, Waffen in ein Kriegsgebiet zu liefern, speise sich daraus, dass die Deutschen sich sehr einig sind, wer der Aggressor ist. So erklärt es der Politikwissenschaftler Stephan Stetter.
Und aus der Angst vor dem Krieg im eigenen Land.
"Ich würde sagen, es ist keine Kriegslust, sondern eine Kriegsangst, die man beobachten kann", fasst Stetter in einem früheren watson-Artikel zusammen. Die Antwort auf diese Angst sei die Unterstützung von Maßnahmen, die dem militärischen Schutz dienten. Das Konzept der Abschreckung.
"Auch die gesamte Friedensbewegung wurde durch den russischen Angriffskrieg geschockt", sagt Karl-Heinz Peil vom Verein Friedens- und Zukunftswerkstatt, der den Ostermarsch in Frankfurt am Main organisiert. Die Bewegung beschränke sich aber nicht darauf, den Krieg zu verurteilen. Vielmehr, meint Peil, weise sie auch darauf hin, welche Entwicklungen zwischen Russland und der Nato schließlich zu diesem geführt hätten.
Peil sagt gegenüber watson:
Aber nicht nur der Ukrainekrieg soll am Montag in Frankfurt kritisiert werden, sondern "die gesamte Bandbreite weltweiter Kriege und humanitärer Katastrophen". Aus Sicht von Peil werden diese durch den Krieg in Europa noch weiter aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt als zuvor. Anders als in den vorherigen Jahren werde in diesem Jahr nicht nur gegen geplante Aufrüstungsmaßnahmen protestiert, sondern vor allem gegen das 100-Milliarden-Euro-Paket für die Bundeswehr. Also die Antwort der Ampel-Regierung auf den Krieg und den desolaten Zustand der Deutschen Bundeswehr.
Peil fasst zusammen:
Aus Sicht des Friedensaktivisten ist eine Beendigung des Krieges nur möglich, wenn auf beide Seiten Druck ausgeübt werde: Eine Lösung verhandelt werde. Für ihn ist klar, dass Waffenlieferung eine gegenteilige Wirkung haben.
Doch das Konzept der Abschreckung hat nicht nur im Kalten Krieg gewirkt, sondern tut es auch heute noch.
Die gesamte Nato baut darauf auf.
Aus Sicht des Politikwissenschaftlers Stephan Stetter ist die Abschreckung ein stabilisierendes Element – auch wenn Stetter nicht ausschließt, dass diese Abschreckung und das Gleichgewicht der Kräfte ein Eskalationspotenzial bergen.
Trotzdem stellt er die Gegenfrage:
Denn für Stetter ist klar: Möglichen Gegnern muss gezeigt werden, dass sich Deutschland und Europa im Zweifel zur Wehr setzen können.
Für die Menschen in der Friedensbewegung sei in erster Linie wichtig, dass der Krieg gestoppt werden muss, fasst Jutta Kausch-Henken auf watson-Anfrage zusammen. Sie ist Teil der Friedenskoordination Berlin.
Sie sagt:
Waffenlieferungen und das Schüren von Hass hingegen verschlimmerten ausschließlich die Situation in der Ukraine, meint Kausch-Henken.
Der Militärsoziologe Martin Elbe geht gegenüber watson davon aus, dass der Krieg letztlich mit einer eingefrorenen Frontlinie enden wird – ähnlich wie in Korea.
Zumindest vorerst.
Eine solche Linie könnte für längere Zeit der neue Grenzverlauf sein – denn Elbe geht auch nicht davon aus, dass die Russen sich komplett zurückziehen werden.
"Frieden schaffen ohne Waffen" – diese alte Kernforderung des deutschen Pazifismus scheint durch den Ukraine-Krieg also infrage gestellt, wenn nicht gar diskreditiert.
"Und das eben dadurch, dass Putin so etwas einfach nicht respektiert", sagt der Politikwissenschaftler Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung in Hamburg gegenüber der dpa. "Insofern verpuffen hier meiner Meinung nach die klassischen Slogans der deutschen Friedensbewegung."
Kühn hält es für möglich, dass sich Putins Haltung ändert, wenn auch dieser Angriff ins Stocken gerät.
Er sagt:
Andere sind da weniger optimistisch. "Wir kapitulieren nicht. Niemals. Wir können untergehen. Aber wir werden eine Welt mitnehmen" – dieses Zitat von Adolf Hitler ruft die Philosophin Svenja Flaßpöhler in einem Gastbeitrag für die "Zeit" in Erinnerung.
Sie schreibt:
Er könne die Welt mit in den Abgrund reißen.
Flaßpöhlers Folgerung lautet:
Der Pazifismus ist nicht tot.
Und das ist auch gut so, denn bei all den Kriegen und Konflikten in der Welt – und seit einiger Zeit auch wieder sehr präsent mitten in Europa – ist der laute Schrei nach Frieden wichtig.
Nach wie vor.
Denn was wäre unsere Welt ohne Idealisten?
Ohne Aktivistinnen?
Was wäre sie, ohne den Pazifismus?
(Mit Material von dpa)