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Ukraine-Krieg führt zu Streit mit einem Freund – und über Fakten

Russian Drone Attack On Odesa Odesa, Ukraine - March 2, 2024 - A teddy bear lies in the rubble at a section of a residential building destroyed by a Russian drone, Odesa, southern Ukraine. As reported ...
Der Krieg zerstörte das Leben hunderttausender Menschen, doch Putin hat seine eigene Wahrheit.Bild: imago images / ABACAPRESS
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Wenn ein Chat über den Ukraine-Krieg in einer Recherche über Fakten endet

Ein Chat mit einem alten Bekannten. Er glaubt den russischen Narrativen und ich lasse mich auf die Diskussion ein.
31.03.2025, 07:19
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Der Laptop steht noch auf dem Esstisch. Daneben: ein Kaffee, halb ausgetrunken. Samstagnachmittag. Ich hätte gerne etwas anderes getan – Serien geschaut, Flohmarkt, einen Spaziergang. Stattdessen sitze ich fest. In einem Whatsapp-Chat. Mit Lars, der nicht wirklich Lars heißt, aber in diesem Text so genannt wird.

Wir kennen uns schon lange, haben viel gemeinsam erlebt, auch Schönes. Aber sobald es um Politik geht – vor allem um Russland und den Ukraine-Krieg – fühlt es sich an, als hätten wir zwei völlig unterschiedliche Versionen der Realität gespeichert. Schon immer hatte er eine gewisse Faszination für Wladimir Putin. Diese hat sich seit Beginn des Ukraine-Kriegs 2022 verfestigt.

Lars schickt mir einen Text zu Donald Trumps Verhandlungen mit dem russischen Machthaber. "Er räumt auf", steht in seiner Nachricht. Ich entgegne: "Es zeigt sich wieder, dass Russland keinen Frieden will."

Was folgt, ist eine dieser Diskussionen, bei denen man nicht gewinnen kann. Ich merke, wie mein Herz schneller schlägt. Ich will aussteigen – aber ich kann nicht. Vielleicht, weil ich ihn nicht verlieren will. Vielleicht, weil ich es nicht ertrage, wenn Menschen wie Lars Narrative eines Verbrechers glauben.

Die Realität ist nicht schwarz-weiß

Lars schreibt: "Der Krieg muss aufhören. Russland steht die Kontrolle über die Gebiete zu. Basta."

Basta? Ich verstehe, dass viele sich nach Frieden sehnen und nicht wissen, was sie glauben sollen – bei all den Stimmen, die auf uns einprasseln. Der Preis für Frieden darf aber nicht sein, dass ein autoritärer Staat belohnt wird, weil er mit Gewalt Grenzen verschiebt.

Lars glaubt, Russland wurde provoziert und deshalb gibt es diesen Krieg. Dass Menschen im Osten der Ukraine zu Russland wollen. Ich will sein Denken verstehen. Denn die Realität ist nicht schwarz-weiß. Nur deshalb funktioniert Propaganda.

Was stimmt, ist: Es gibt prorussische Stimmen im Donbass. Vor allem dort, wo russischsprachige Bevölkerung lebt, wo Desinformation seit Jahrzehnten wirkt. Aber: Das ist nicht der Grund für die Bombardierungen in der gesamten Ukraine und Kriegsverbrechen wie die Massengräber in Butscha.

Lars sagt: "Laut UN-Charta darf ein Volk selbst entscheiden." Ist es nicht Putin, der den Menschen seinen Willen mit Gewalt aufzwängt? Stell dir eine Abstimmung vor, bei der bewaffnete Soldaten das Wahllokal sichern, Menschen keine freie Presse lesen und oppositionelle Stimmen verschwunden sind – das war eine der sogenannten "Abstimmungen" in den von Russland annektierten Gebieten.

Ich suche nach etwas, das ihn erreicht. Also schicke ich Zahlen. Statistiken. Berichte. Alles, was nachweisbar ist – und ich suche auch unabhängige Informationen, die russische Narrative unterstützen könnten. Vergeblich.

Laut dem "freedom in the world"-Index zählen die Wahlen in den besetzten Gebieten zu den "worst of the worst" der unfreien Wahlen der Welt, gemeinsam mit jenen in Ländern wie Nordkorea, Südsudan oder Afghanistan.

Diese Erhebungen gelten als methodisch transparent. Ganz im Gegensatz zu Kreml-Aussagen ohne valide erhobene Daten.

Krieg, um die Ukraine zu befreien?

Schon kommt die nächste Nachricht von Lars: "Es gab Genozid an Russen in der Ukraine. Dem musste man ein Ende setzen." Mein Herz schlägt schneller. Was stimmt: Es gab gewaltsame Auseinandersetzungen in der Ostukraine, teils mit von Russland unterstützten bewaffneten Gruppen. Der Internationale Gerichtshof (IGH) fand in einem Verfahren keine Hinweise auf Völkermord. Auch die Internationale Vereinigung der Genozid-Forscher wies Russlands Vorwürfe entschieden zurück.

Vielmehr warnten Genozid-Expert:innen davor, dass solche Anschuldigungen Teil einer gezielten Spiegelungstaktik seien – mit dem Ziel, die eigene Gewalt zu rechtfertigen und von Kriegsverbrechen gegen Ukrainer:innen abzulenken.

Die harte Datenlage zu Russland und der Ukraine

Was Lars immer wieder in seinen Nachrichten betont, ist ein zentrales Narrativ: Die Ukraine sei korrupt, auch deshalb schritt Russland ein.

Ich schicke Lars den Korruptionswahrnehmungsindex (Transparency International, 2024):

  • Russland: Platz 154 von 180, Punktzahl: 22/100, direkt hinter Aserbaidschan, Honduras und Libanon.
  • Ukraine: Platz 105 von 180, 35/100
  • Deutschland: Platz 15, 75/100

Je niedriger die Punktzahl, desto stärker wird Korruption wahrgenommen. Russland liegt tief im Bereich der systemischen Korruption, hat sich in den vergangenen Jahren verschlechtert (2015 noch 29 Punkte). In der Ukraine ist die Lage diesbezüglich deutlich besser geworden. Korruption ist also kein valides Argument für den Krieg.

cpi transparency Korruptionsindex
Bild: cpi / transparency
cpi transparency
Bild: cpi / transparency

Ich schicke ihm weitere unabhängige Daten.

Demokratieindex (The Economist Intelligence Unit, Index von 2024):

  • Russland: Rang 151 von 167, Wert 2,03 – "Autoritäres Regime"
  • Ukraine: Rang 92 von 167, Wert 4,90 – "Hybrid-Regime", Funktionsfähigkeit der Regierung ist wegen des Kriegs eingeschränkt
  • Deutschland: Rang 16 – "Vollständige Demokratie"

Der Index misst Wahlprozesse, politische Teilhabe, Funktionsweise der Regierung, politische Kultur und bürgerliche Freiheiten. Der Bericht nennt Russland (gemeinsam mit Ländern wie Venezuela, Iran oder Pakistan) als Beispiel für ein autoritäres Regime, das demokratische Fassade vorgibt, aber de facto autokratisch herrscht.

Immer wieder frage ich mich im Gespräch mit Lars, warum man Erzählungen von Akteuren Glauben schenkt, die Andersdenkende mit Gewalt unterdrücken und verfolgen lassen sowie massive Medienkontrolle und Desinformation betreiben. Propaganda auf Social Media und anderen Kanälen leistet offenbar gute Arbeit.

Um zu untermauern, dass Russlands Politik nicht vertrauenswürdig ist, schicke ich ihm noch den Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen aus dem Jahr 2024:

  • Russland: Platz 162 von 180
  • Ukraine: Platz 61 von 180
  • Deutschland: Platz 10 von 180

In Russland wurden Journalist:innen inhaftiert, unabhängige und regierungskritische Medien geschlossen. Die Ukraine hat trotz Kriegsrecht ein pluralistisches Mediensystem – inklusive Regierungskritik.

Pressefreiheit index
Hier die Weltkarte zur Pressefreiheit.Bild: Reporter ohne Grenzen

Dann gibt es da noch den Rule of Law Index (World Justice Project, 2023):

Er misst, wie stark der Rechtsstaat in einem Land ausgeprägt ist – also, wie gut Gesetze funktionieren, wie unabhängig Institutionen sind und wie gerecht die Gesellschaft organisiert ist.

  • Russland: Rang 113 von 142, Wert 0,43 von 1 – massiv eingeschränkter Rechtsstaat
  • Ukraine: Rang 88 von 142, Wert 0,49 von 1 – vor dem Krieg 2021 noch auf Platz 74, 2020 auf Platz 72
  • Deutschland: Rang 5, Wert 0,83 von 1

Russland ist der Aggressor. Punkt.

Wer behauptet, Russland und Ukraine seien "beide gleich schlimm", ignoriert die messbare Realität. Ja, auch in der Ukraine ist nicht alles gut. Aber es gibt Fortschritt, Wille zur Reform, internationale Kontrolle. In Russland? Eine systematische Rückentwicklung in Richtung Repression, Gewalt und Verfolgung Andersdenkender. Das ist nachweisbar.

Die Argumente, die Lars nennt, basieren auf realen, teils ehemaligen, Missständen – wie Korruption, Identitätskonflikte im Osten, Misstrauen in Eliten. Doch genau diese werden von Russland instrumentalisiert, verzerrt, ausgeschlachtet – um einen Angriffskrieg zu legitimieren.

Der Chat ist beendet, seit ich ihm die Indexe geschickt habe. Lars hat aufgehört zu schreiben. Vielleicht denkt er nach. Vielleicht nicht. Aber ich tue es. Immer wieder. Denn wenn selbst Lars solche Dinge glaubt – wie viele andere dann noch?

Die Friedensverhandlungen haben bisher kaum Fortschritte gebracht. Man stelle sich vor, Putin sagt heute "Stopp". Der Krieg wäre morgen vorbei.

Warum tut er es nicht?

Vielleicht, weil er nicht für den Frieden und Menschen kämpft, sondern für Macht und das Recht des Stärkeren.

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