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Bundestagswahl: Warum die CDU-Debatte um Migration nur die AfD stärkt

Friedrich Merz, Vorsitzender der CDU und Fraktionsvorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion, Wirtschaftskonferenz von CDU und MIT - Deutschland kann es besser, im Konrad-Adenauer-Haus, DEU, Berlin, 23.0 ...
Friedrich Merz (CDU) schreibt Rechnungen, die ein Kanzler nicht begleichen kann.Bild: imago images/ Jens Schicke
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Bundestagswahl: Wo das Problem in der Debatte um Migration liegt

07.02.2025, 16:1707.02.2025, 19:51
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In der Bundestagsdebatte zum 5-Punkte-Plan ist ein bemerkenswerter Satz gefallen, der die gesamte Diskursverschiebung auf den Punkt traf, und er kam von Phönix-Kommentator Erhard Scherfer. Über die Rede von FDP-Chef Christian Lindner sagte Scherfer, er habe "ein Bild der Sicherheitslage nach Gefühlen gezeichnet, nicht nach Fakten".

Lindner sprach von Kindern, die morgens auf dem Weg zur Schule überlegen, welchen Weg sie wählen, um nicht abgezogen zu werden; Senioren, die abends nicht mehr auf dem Bahnsteig sein wollen und Eltern, die die Teenagertochter abends nicht mehr allein in die Stadt gehen lassen. Das gipfelte in folgender Ableitung: "Diese Form der Selbstzensur des eigenen Handelns, weil man sich nicht mehr sicher fühlt, ist die schlimmste Form der Freiheitseinschränkung."

CDU-Chef Friedrich Merz spricht von "Gruppenvergewaltigungen"

Lindner ist damit nicht alleine. Wer sich in den vergangenen Wochen zur Migration geäußert hat, sprach von der Anzahl an Messerstichen, mit denen die zwei Menschen in Aschaffenburg getötet wurden oder von "täglich" stattfindenden "Gruppenvergewaltigungen" aus dem "Asylmilieu" (Friedrich Merz). Es ging bei Migration um Abschiebungen, um Sicherheit und Gefährderpotenziale. Es ging um Gefühle.

Eines vorab: Der tödliche Messerangriff von Aschaffenburg war eine nicht kleinzuredende Tragödie, genauso wie die Anschläge in Magdeburg, Solingen oder Mannheim. Dass Menschen, die nach Deutschland kommen, straffällig werden, ist ein Problem. Man darf sich deswegen aber nicht in verallgemeinernden Fehlschlüssen verirren.

"Trumps kultureller Sieg hat seinen politischen Sieg überholt."
New-York-Times-Kolumnist Ezra Klein über den "vibe shift" in Debatten.

Natürlich sind Gefühle wichtig. Wir treffen Lebensentscheidungen auf der Grundlage von Gefühlen, auch wenn uns die Fakten etwas anderes nahelegen. Wenn es uns schlecht geht, tut man gut daran, das Gefühl, die Befindlichkeiten aufzugreifen, weil man manchmal gar keine Ratschläge hören möchte. Man möchte den Eindruck haben, gehört und verstanden zu werden. Wenn aber Politik nur mit Gefühlen gemacht wird, und nicht mit Fakten, dann wird daraus nicht selten Populismus.

Migration führt nicht zu mehr Kriminalität

Im vergangenen Winter ist in der Fachzeitschrift "Journal of Economic Perspectives" eine groß angelegte Studie erschienen, die den Zusammenhang zwischen Einwanderung und Kriminalität auf internationaler Ebene untersucht hat.

Das Ergebnis: Statistisch gesehen gibt es keinen konsistenten Beweis dafür, dass Einwanderung zu einem Anstieg der Kriminalitätsrate führt. Im Gegenteil: Daten aus 55 Ländern zeigen eher eine negative Korrelation. In Ländern mit mehr Zuwanderung ist die Kriminalitätsrate sogar gesunken. Der entscheidende Faktor, auch das ergab die Studie, ist der Zugang zum Arbeitsmarkt.

Was also nicht nur in Deutschland festzustellen ist, ist eine Diskrepanz zwischen der gefühlten Sicherheit und der tatsächlichen Sicherheit. Die Politik bringt das in ein Dilemma: Es gilt, das subjektiv schwindende Sicherheitsgefühl aufzufangen und gleichzeitig Lösungen für das tatsächliche Problem in der Migrationspolitik anzugehen.

Der linke Reflex, die evidenten Missstände einer auch der Migration geschuldeten Überlastung von sozialer Infrastruktur, Wohnungsmarkt, Gesundheits- und Bildungssystem, von mangelnder psychologischer Betreuung, zu wenigen Sprachschulen und Stellen in den Ausländerbehörden totzuschweigen, läuft bislang aber ebenso ins Leere wie die Dämonisierung vermeintlich notorisch krimineller Geflüchteter.

Migration: Geschichten wirken stärker als Fakten

Wie also damit umgehen? Eine weitere, 2023 in "The Review of Economic Studies" erschienene Studie hat untersucht, wie die Wahrnehmung von Einwanderung die Unterstützung für Umverteilung beeinflusst. Sie ergab unter anderem, dass negative Fehleinschätzungen über Einwanderer weit verbreitet sind – aber kaum durch bloße Fakten korrigiert werden können. Narrative Strategien, so die Schlussfolgerung, sind effektiver als reine Informationskampagnen.

Darin zeigt sich eine Entwicklung, die der "New York Times"-Kolumnist Ezra Klein für die USA als "Vibe Shift" bezeichnet hat. Er argumentiert, dass Donald Trump den popular vote, also die Gesamtheit der Stimmen, nur mit 1,5 Prozentpunkten Abstand gewonnen, sich das Ergebnis aber wie eine tektonische Verschiebung angefühlt hat. "Trumps kultureller Sieg hat seinen politischen Sieg überholt", schreibt Klein.

Beim Thema Migration ist es in Deutschland ähnlich – mit fleißiger Zuarbeit der linksliberalen Parteien, denen es nicht gelungen ist, deutlich zu machen, worum es hier eigentlich geht. Was seit einiger Zeit zu beobachten ist, ist eine Verschiebung des sogenannten Overton-Fensters. Der Begriff aus der Politikanalyse bezeichnet die Inhalte, die im öffentlichen Diskurs als politisch akzeptabel gelten. Innerhalb dieses Fensters können politische Entscheidungen getroffen werden.

Warum die AfD immer vom Thema Migration profitiert

Was in großen Teilen rechtsextreme Kräfte wie die AfD versuchen, ist, dieses Fenster zu verschieben. Im Beispiel der Migration: mit Erfolg. Sofortige Inhaftierung ausreisepflichtiger Personen, konsequente Zurückweisung an den Außengrenzen – der 5-Punkte-Plan der CDU ist nicht weit von dem entfernt, was sich vor einigen Jahren nur die AfD zu fordern getraut hat.

Und hier kommt eine anderes, gut untersuchtes Konzept der Politikwissenschaft ins Spiel: die Issue-ownership-Theorie. Sie besagt, dass Parteien eine Kompetenz in einem bestimmten Feld zugesprochen wird. Der SPD beispielsweise soziale Gerechtigkeit, den Grünen Klima und der AfD Migration. Wenn sich der Diskurs nun in Richtung eines Themas verschiebt, das eine Partei für sich beansprucht hat, dann zahlt das in Umfragen auf genau die Partei ein.

Also: Weil Migration seit Jahren ohne jegliche Evidenz fast ausschließlich als Sicherheitsbedrohung gezeichnet wird, kommt die AfD aus dem Feixen nicht mehr heraus und treibt die demokratischen Parteien willfährig vor sich her. Demokratische Parteien adaptieren restriktive Positionen zu Migration, tragen also zur Debattenverschiebung mit bei – wovon wiederum die AfD profitiert.

Vor diesem Dilemma stehen demokratische Parteien im Jahr 2025. Wie adressiert man die Ohnmacht nach Attentaten wie in Aschaffenburg, ohne in Generalisierungen zu verfallen? Wie redet man über die manifesten Probleme der Migration, ohne auf das Konto der AfD einzuzahlen? Und wie schafft man all das, wenn Fakten ohnehin weniger Wirkmacht entfalten als Gefühle und Geschichten?

Migration als Erfolgsgeschichte erzählen

In dem Buch "Erzählende Affen: Mythen, Lügen, Utopien – wie Geschichten unser Leben bestimmen" zeichnen die Autor:innen Samira El Ouassil und Friedemann Karig nach, wie Geschichten seit der Antike bis heute Politik, Kultur und unser Selbstverständnis prägen. Narrative, so schreiben sie, würden heute "die größte transformative Kraft besitzen".

Dass Deutschland die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ist, hängt auch damit zusammen, dass in keiner anderen Industrienation außer den USA so viele Menschen leben, die in einem anderen Land geboren wurden.

Man muss das Migrationsproblem als ein Integrationsproblem erklären, nicht als ein Sicherheitsproblem. Die demokratische Mitte muss deutlich machen, dass der Fachkräftemangel nicht ohne Migration bewerkstelligt werden kann und den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern. Einfühlsam und empathisch. Vielleicht sogar pathetisch. Wenn Migration als die Erfolgsgeschichte erzählt wird, die sie ist, könnten davon am Ende alle profitieren.

Der britische Schriftsteller Terry Pratchett hat einmal gesagt: "People think that stories are shaped by people. In fact, it's the other way around."

Ungarn-Auslieferung von Maja T.: Wie die Behörden komplett versagten

Es war ein "Horrortrip", sagt Maja T. wenige Wochen nach der nächtlichen Überführung von Deutschland nach Ungarn in einem Telefonat mit dem MDR. Nachdem das Berliner Kammergericht am 27. Juni 2024 eine Auslieferung der damals 23-jährigen non-binären Person erlaubte, schafften die deutschen Behörden innerhalb weniger Stunden Fakten. Am Vormittag des 28. Juni befand sich Maja T. bereits in den Händen der ungarischen Behörden.

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