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Ukraine: Flucht wegen hoher Mieten unmöglich? Was wirklich dahinter steckt

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Ukraine: Ältere Menschen entscheiden sich häufiger dazu, sich in gefährlichen Kriegsgebieten zu verbarrikadieren. (Symbolbild) Bild: imago images / ZUMA Wire
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Ukraine: Flucht wegen hoher Mieten unmöglich? Was wirklich dahinter steckt

27.08.2024, 19:30
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Die Situation in der Ukraine bleibt auch während der aktuellen Kämpfe dramatisch, insbesondere im Osten und Süden des Landes. In der Region Donezk rücken die russischen Truppen weiter vor. Ihr Ziel: Pokrowsk.

Entlang einer einst ruhigen Autobahn, die die Städte Pokrowsk und das besetzte Donezk verband, liegen heute stark umkämpfte Siedlungen wie Selydowe und Petriwka. Insgesamt stehen 27 Ortschaften im Raum Kostjantyniwka und Selydowe mittlerweile auf der Evakuierungsliste. Ukrainische Familien müssen ihre Häuser verlassen.

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Kriegsfront rückt näher: Unzählige Menschen verlassen derzeit die Stadt Pokrowsk.Bild: AP / Evgeniy Maloletka

Während Bomben fallen und die Zerstörung weiter voranschreitet, stellen sich die anderen dort lebenden Ukrainer:innen die Frage: Fliehen oder bleiben? Der Alltag so nahe am Kampfgeschehen ist für sie kaum erträglich. Die meisten Menschen fliehen deshalb von den Gebieten unweit der Front, um ihr Leben zu retten.

Doch einige bleiben. Selbst dann, wenn die russischen Truppen tödlich nah sind.

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Argumente für den Verbleib gibt es viele. Eines der häufigsten ist, dass die Wohnungen in der Ukraine mittlerweile zu teuer seien. Doch dies ist nur ein Teil der Wahrheit.

Ukrainer entscheidet sich für den Verbleib – wegen hoher Mieten

Denys, ein humanitärer Helfer in Petriwka, beschreibt die Situation im "Kyiv Independent" eindringlich: "Jeden Tag verlassen die Menschen ihre Häuser, weil die Front näher an sie heranrückt." Einer derjenigen, die bleiben, ist Anatoliy: ein Rentner aus Selydowe. Er kam zu einem Verteilungspunkt für humanitäre Hilfe, um ein Paket mit dem Nötigsten abzuholen, wurde dort befragt.

"Ich würde gern evakuieren, aber das ist einfach nicht möglich. Die Mieten sind so hoch, dass ich mich entscheiden müsste, ob ich für eine Wohnung oder für Lebensmittel zahle", erzählt er der Zeitung. Seine Situation versucht er mit Optimismus abzutun: "Jetzt warte ich einfach auf Frieden. Das ist alles, was ich will."

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Die russischen Truppen rücken in der Ukraine, der Region Donezk, weiter vor. Bild: imago images / SNA

Die Preise für Wohnimmobilien in der Ukraine sind im zweiten Quartal 2024 im Vergleich zum Vorjahr tatsächlich gestiegen: Um durchschnittlich 10 Prozent, wie aus einem Bericht von RBC-Ukraine hervorgeht. Zwar sanken die Preise in den vergangenen zwei Monaten geringfügig um 0,4 Prozent, doch seit Jahresbeginn sind die Mieten um 4,7 Prozent angestiegen.

Doch damit ist der wahre Grund für einen Verbleib nicht gefunden. Anton Jaremtschuk, Projektkoordinator bei der Kramatorsker Organisation "Base UA" kennt die Situation in gefährlichen Gebieten aus erster Hand. Seit Beginn der vollständigen Invasion führt seine Organisation Evakuierungen an umkämpften Orten durch.

Dabei trifft er regelmäßig auf Menschen, die nicht wegwollen. "Es begegnet uns die ganze Zeit, konstant", berichtet er auf watson-Anfrage.

Hohe Mieten als Scheinargument – dahinter stecken komplexe Gründe

Das oft gehörte Argument der zu hohen Mieten in sichereren Regionen hält Jaremtschuk für ein Scheinargument. "Damit die Entscheidung logisch wirkt", erläutert er. Dabei handele es sich seiner Einschätzung nach um eine Selbsttäuschung. Denn das Leben in den Kampfzonen sei alles andere als normal.

"Sie sind in extrem lebensbedrohlichen und prekären Situationen", betont er. Die Alternative – eine Flucht in ein sicheres, aber ungewisses Umfeld – erscheine ihnen als kaum weniger bedrohlich.

Um die komplexen Beweggründe zu beschreiben, erklärt Jaremtschuk, dass sich die Evakuierungen an den Frontgebieten in verschiedene Phasen unterteilen lassen. "Es gibt die Menschen, die schon vor der Invasion fliehen und diejenigen, die am Tag des Angriffs oder erst nach ein oder zwei Wochen fliehen, wenn ihnen klar wird, dass dies keine kurzfristige Sache ist", erklärt er.

Dann gibt es noch diejenigen, die länger vor Ort verharren. Je länger die Menschen bleiben, desto schwieriger werde es für sie, die Entscheidung zur Flucht zu treffen.

Das Problem: Sie passen sich Stück für Stück an die neue, bedrohliche Realität an. Organisieren sich, etwa mit sozialen Netzwerken, mit den verbliebenen Familien, Freunden oder Menschen, mit denen sie zusammen im Bunker sitzen. Das gebe ihnen in all dem Chaos das Gefühl, ein Stück Kontrolle über ihr Leben zu haben.

May 13, 2022, Kharkiv, Ukraine: LADIES THAT STAYED..It s very scary, but I won t leave my land, defiantly states Lydmila Kirichenko, 75 years old, who has lived in a basement bunker at her apartment b ...
Vor allem ältere Menschen entscheiden sich für einen Verbleib. Bild: imago images / ZUMA Wire

"Die Entscheidung, zu fliehen, erscheint dann oft als gefährlicher und unsicherer als dort zu bleiben, wo sie sind", sagt Jaremtschuk weiter. Zumindest unter der Voraussetzung, dass die Frage nach der Grundversorgung mit Nahrung und Wasser gelöst sei.

Traumata sitzen tief: Wer in der Ukraine fliehen muss, hat es schwer

Menschen, die in den Kampfgebieten bleiben, hätten außerdem oft nicht die Energie oder die Mittel, um eine Flucht zu planen. "Wenn sie lange Zeit nur im Keller oder Bunker sitzen und immer nur für kurze Zeit rauskommen, sind sie erschöpft, traumatisiert", beschreibt Jaremtschuk die Situation.

In einem solchen Zustand sei es verständlich, dass viele sich nicht zu einer solch großen Entscheidung wie der Flucht durchringen könnten.

Hinzu kommt laut Joana Rettig, ehemalige Politik-Teamleiterin von watson und heute freie Journalistin und Krisenreporterin in der Ukraine, dass viele Menschen in ihren Dörfern und Städten eigene Häuser und Wohnungen haben. Dort müssen sie keine Miete zahlen.

Wenn sie wegen der näher rückenden Truppen fliehen, stellt sie das vor Wohnkosten, die sie nicht aus eigener Tasche stemmen können. "Die Renten sind unfassbar niedrig und auch Leistungen wie Kindergeld sind extrem gering. Man kommt über die Runden – irgendwie – aber dann eben nicht, wenn man zusätzlich Miete zahlt", sagt Rettig auf watson-Anfrage.

Als Beispiel nennt sie Rentner:innen oder Familien mit fünf Kindern, die umgerechnet rund 200 Euro im Monat bekommen. "Da bleibt eben nichts mehr übrig fürs Wohnen", sagt sie. Das mache einigen Menschen so zu schaffen, dass sie nach der Flucht wieder in ihre Dörfer zurückkehren. Zur Wahrheit gehöre aber auch: Wer flieht und Hilfe erfragt, bekommt diese in der Regel.

Flucht ist die sichere Option – scheint vielen jedoch kaum überwindbar

Die Alternative ist laut Janutschek zwar meist nur ein Shelter oder auch ein Haus in einem Dorf, häufig nicht im besten Zustand. Doch zumindest seien die Geflohenen dort verhältnismäßig sicher. Von dort aus hätten sie die Möglichkeit, ihre Lage nach und nach zu verbessern. Ganz ohne Beschuss.

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Eine Flucht weg von der Heimat ist für die Ukrainer:innen eine schwere Bürde.Bild: BJV / Florian Bachmeier

Doch bürokratische Prozesse sind anstrengend, Hilfe kommt häufig nicht von allein, sondern benötigt eigenständige Bemühungen. "Ohne finanzielle Mittel, ohne Unterstützung durch Bekannte oder die Familie, ist die Perspektive für viele geflüchtete Menschen düster", sagt Jaremtschuk. Aus diesem Grund gebe es tatsächlich einen Teil der Bevölkerung, der flüchte, aber auf viele Hilfen keinen wirklichen Zugang haben, erklärt er weiter.

Ein Problem, das sich auch bei einer Flucht aus der Ukraine stellt, erklärt die Journalistin Rettig. Etwa, "wenn die Leute ins Ausland, beispielsweise Polen, gehen. Dort haben sie eigentlich Anspruch auf gerechte Sozialleistungen, sind aber oft mit dem riesigen Bürokratieaufwand überfordert und erhalten selten Hilfestellungen."

Ob bei einer Flucht ins Ausland oder innerhalb der Ukraine: Besonders schwierig ist die Lage laut Jaremtschuk von "Base UA" deshalb für ältere Menschen und solche, die ihr ganzes Leben in einer Region verbracht haben.

Sie kennen kein anderes Leben, haben häufig keine Perspektive oder Kontakte außerhalb der Region. Erschwerend kommen Traumata dazu: "Wenn man über zwei Jahre in einer sehr prekären Lage gelebt hat, wo auch die meisten normalen gesellschaftlichen Interaktionen und Mechanismen extrem reduziert sind oder komplett zusammengebrochen sind, ist es extrem schwer, neu anzufangen." Zu schwer lasten die Erlebnisse und die Gesamtsituation auf den Schultern der Menschen. Einfacher ist es für einige, in der Situation zu verharren und Gründe für den Verbleib vorzuschieben. Zu hohe Mieten zum Beispiel.

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