Für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan muss es eine Achterbahn der Gefühle gewesen sein. Ein Wahlkrimi, den er sich so nicht gewünscht hätte: Vor knapp zwei Wochen gaben 89 Prozent der wahlberechtigten Türk:innen ihre Stimme für ihren neuen Präsidenten ab. Der 69-Jährige wollte (und will) weiter im Amt bleiben, doch da kam etwas dazwischen.
Oder eher jemand.
Sein Konkurrent, der Sozialdemokrat Kemal Kılıçdaroğlu (74), lag in den Umfragen vor der Wahl sogar noch vor Erdoğan. Hätte er eine absolute Mehrheit erlangt (also mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen), dann hätte er Erdoğan vom Thron gejagt. Doch es kam anders.
Es gab kein eindeutiges Ergebnis. Am Sonntag findet die Stichwahl statt.
Was für Erdoğan die Rettung in letzter Sekunde war, ist für junge Menschen in der Türkei ein Schlag ins Gesicht. Sie wollen Veränderung. Sie wollen den Wandel im System.
Es ist ein Generationenkonflikt. Obwohl Erdoğan eine ganz eigene, ihm zugewandte, eine "fromme Generation" heranziehen wollte. Mit dem Ziel, eine "neue Türkei" zu schaffen, die auf einer "frommen Generation" aufgebaut ist, werden laut der Bundeszentrale für politische Bildung seit 2011 islamische Praktiken und Symbole von der Regierung sowie lokalen AKP-Stadtverwaltungen gezielt gefördert.
Die "fromme Generation" hat Erdoğan aber offensichtlich nicht heranziehen können. Was sich in der Türkei zwischen den Generationen abspielt, zeichnet ein anderes Bild: Die Jugend will Freiheit. In einem Land, das mehr und mehr Freiheiten einschränkt. Rechte für queere Menschen werden torpediert. Als erstes Land kehrte die Türkei 2021 der Istanbul-Konvention den Rücken – ein internationales Abkommen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit? Kaum noch vorhanden. Politische Gegner:innen und kritische Journalist:innen landen regelmäßig im Gefängnis.
All das steht den Wünschen der 18- bis 25-Jährigen entgegen. Sie wollen, dass sich ihr Land weiter an westlichen Werten orientiert. Dafür hätte Kılıçdaroğlu gestanden.
Doch Erdoğan, der mit 49,52 Prozent der Stimmen schon beim ersten Wahlgang vor Kılıçdaroğlu (44,88) lag, konnte nun seinen Vorsprung weiter ausbauen. Neuesten Umfragen zufolge liegt er bei mehr als 50 Prozent, nachdem der ultranationalistische Präsidentschaftskandidat Sinan Oğan nun seine Unterstützung für Erdoğan ausgesprochen hatte.
Ist die Hoffnung der Jugend auf einen Wandel in der Türkei jetzt tot?
"Das endgültige Ergebnis sehen wir erst am Sonntag", erklärt Türkei-Experte Kristian Brakel von der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung auf Anfrage von watson. "Aber ich würde denken, dass viele, die die Opposition wählen, schon nach der ersten Runde enttäuscht waren, dass ein Wechsel wohl zahlenmäßig in so weiter Ferne liegt."
Der große Hoffnungsschimmer ist zu einem dunklen Trauerkloß zusammengeschrumpft. Erdoğan hat bereits einen Vorsprung von fünf Prozent – und seine Partei, die AKP, die Parlamentsmehrheit. "Es sieht nicht danach aus, als stünden die Ampeln auf Veränderung", meint Brakel.
Dabei ist es das, worauf junge Menschen warten. Wer heute 20 Jahre alt ist oder jünger, der oder die hat nie einen anderen Präsidenten in der Türkei erlebt. Für die Älteren ist Erdoğan derjenige, der wieder Ansehen für die Türkei in der Welt gebracht hat, der die Religion wieder im Land etabliert hat.
2011 hat er sich darum gekümmert, dass das Kopftuchverbot an Schulen und Universitäten aufgehoben wurde. Vor allem für die ländlich geprägte Bevölkerung war das ein Zeichen dafür: Hier ist jemand, der sich wirklich um unsere Anliegen kümmert. Jemand, der nicht für die Bildungselite einsteht.
Doch für die Jugend zählt das nicht mehr. Die Werte der Generationen haben sich gewandelt: Ansehen und Verehrung älterer Generationen, Religion und Tradition haben einen sehr viel kleineren Stellenwert eingenommen als noch bei deren Elterngeneration.
Was zählt, ist, was Erdoğan in den vergangenen Jahren erreicht hat: Eine nicht enden wollende Inflation, Wirtschaftskrise, Arbeitslosigkeit, wenig Chancen auf sozialen Aufstieg. "Mit einem Machtwechsel verbinden sich natürlich sehr viele Hoffnungen", sagt Brakel. Doch: "Nicht alle davon sind realistisch."
Das wichtigste, meint der Experte, sei die Frage nach der Wirtschaft und der Arbeitslosigkeit – und "ob sie sich in diesem Land noch eine Zukunft vorstellen können". Vielen Berichten zufolge erzählen junge Türk:innen davon, dass sie – gäbe es nicht so viele politische und wirtschaftliche Probleme – in ihrem Land bleiben wollten. Doch eine Perspektive sehen sie nicht.
Laut jüngsten Umfragen wünschen sich 80 Prozent der jungen Menschen in der Türkei, dass sich das Land eher in Richtung westlicher Staaten entwickelt. Bereits 2021 hat die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in einer Jugendstudie in der Türkei aufzeigen können: Den jungen Menschen fehlt die Hoffnung. 62,8 % der insgesamt 3.243 Befragten äußerten damals, dass sie die Zukunft der Türkei nicht positiv sehen.
Die Gründe dafür waren der Studie zufolge hauptsächlich hohe Lebenshaltungskosten für Studierende, die hohe Inflation und die Angst vor einem möglichen wirtschaftlichen Zusammenbruch.
Und all das geschah bereits vor der extrem hohen Inflation im Herbst 2021, vor der Ölkrise und der noch stärkeren Preissteigerung durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine.
Gleichzeitig hatten bereits damals, 2021, die jungen Menschen kaum noch Vertrauen in das Rechtssystem. 72,9 Prozent der Befragten gaben an, dass sie gern in einem anderen Land leben würden, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten. Vertrauen in die grundlegenden institutionellen Strukturen des Landes gibt es kaum noch, wie die Zahlen zeigen:
Desillusioniert, aber gleichzeitig stark politisiert. Die Jugend in der Türkei sucht regelrecht nach einer Politik, einem System, in dem sie sich selbst verwirklichen kann. Das zeigen auch die Umfragewerte, der KAS-Jugendstudie, in der die jungen Menschen angaben, die politischen Ereignisse im In- und Ausland aufmerksam zu verfolgen.
Doch auch dieses Mal wird die Jugend mit aller Wahrscheinlichkeit enttäuscht werden. Einen Systemwechsel, der so heiß ersehnt wird, hält der Türkei-Experte Brakel "unter den aktuellen Vorzeichen für nicht realistisch". Unter der Regierung und Präsident Erdoğan werde das Land an seinem Autoritarisierungskurs festhalten, mit all seinen Bruchlinien, die man versuche, mit lautstarkem Nationalismus zu übertünchen.
"Letzterer kommt durchaus auch bei jungen Menschen gut an", meint Brakel. Das zeigt auch die Jugendstudie der KAS, die den Nationalismus als "Bindeglied der jungen Gesellschaft" bezeichnet.
Doch Brakel sagt: Dass der Nationalismus "Hand in Hand geht mit einer Illiberalität im Denken, die auch Menschenrechten und anderem entgegensteht, wird oft nicht gesehen".