Es ist ein festlicher Anlass – die erste Sitzung des neu gewählten Bundestags. Und Gregor Gysi wäre nicht Gregor Gysi, wenn er diesen Moment nicht nutzen würde, um Tacheles zu reden. Als Alterspräsident durfte der 77-Jährige das neue Parlament am Dienstag mit einer Rede eröffnen – und machte direkt klar: Es gibt viel zu besprechen.
Bevor Gysi loslegen konnte, versuchte die AfD, den Ablauf zu kippen. Sie beantragte, wie bis 2017 üblich, den ältesten Abgeordneten zum Alterspräsidenten zu machen: Alexander Gauland. Doch alle anderen Fraktionen lehnten das geschlossen ab. Damit blieb es bei der geltenden Regel: Der dienstälteste Abgeordnete übernimmt. Gysi gehört dem Bundestag – mit einer Unterbrechung – seit der Wiedervereinigung 1990 an.
Frieden, Respekt, Rhetorik und Demokratie. Ukraine, Nahost, USA und Inland: Gysi streifte in seinen rund 40 Minuten beinahe jedes große Thema unserer Zeit. Und konfrontierte die Abgeordneten gleich zum Start mit einem Appell.
Im Zentrum seiner Rede zunächst: der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine. Gysi rief dazu auf, politische Differenzen in der Friedensfrage nicht zu moralisieren oder zu skandalisieren. Man müsse akzeptieren, dass es unterschiedliche Auffassungen gebe, wie Frieden hergestellt werden könne.
Politiker:innen, die auf Rüstung und Abschreckung setzten, dürften nicht als Kriegstreiber bezeichnet werden, mahnte er.
Andererseits seien Menschen wie er selbst, die mehr Diplomatie und eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa einschließlich Russlands wollten, keine "Putin-Knechte". "Wenn wir mehr Glaubwürdigkeit bei der Bevölkerung erreichen wollen, sollten wir in unserer Sprache das Maß wahren, nicht immer bei Menschen mit anderer Auffassung das Übelste unterstellen."
In seiner Rede richtete er seinen Blick auch in die USA und zum US-Präsidenten Donald Trump. Die Szene ist im Live-Ticker des "Spiegel" dokumentiert: Gysi sprach über Trumps "imperiale Ambitionen" und spekulierte: "Wenn er aber tatsächlich Grönland und damit einen Teil Dänemarks angriffe, könnten wir uns im Unterschied zu den anderen genannten Fällen nicht neutral verhalten."
Was das für Deutschland und Europa bedeuten würde? "Wir müssten Dänemark unterstützen. Dann aber wäre die Nato tot. Ich war immer für eine europäische Initiative, für einen Waffenstillstand und einen Frieden zwischen Russland und der Ukraine. Auch weil ich befürchtete, dass Trump zum Präsidenten gewählt wird."
Innenpolitisch schlug Gysi in seiner Rede zudem vor, im Bundestag parteiübergreifende Gremien einzurichten, um Lösungen für zentrale Zukunftsfragen zu entwickeln – etwa zur Rente, Steuergerechtigkeit, Gesundheitsfinanzierung oder Bürokratieabbau. Er bat außerdem Bundespräsident Steinmeier, ein Gremium zur Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ins Leben zu rufen.
Zum Schluss wurde Gysi persönlich – und sprach über die Ungleichgewichte nach der Wiedervereinigung. Vieles aus der DDR sei ignoriert oder abgewertet worden. "Übernommen hat man aus der DDR nur das Sandmännchen, das Ampelmännchen und den grünen Abbiegepfeil", sagte Gysi.
"Damit sagte man aber den Ostdeutschen, dass sie außer diesen drei Punkten nichts geleistet hätten." Sein Vorschlag: Eine Entschuldigung des nächsten Bundeskanzlers bei den Ostdeutschen. Das, sagt Gysi, könnte ein echter Schritt zur inneren Einheit sein.
(Mit Material von dpa)