Die deutsche Verteidigungspolitik steht vor einem Wendepunkt: Angesichts der nachlassenden Unterstützung der USA für die Ukraine rückt die eigene militärische Stärke stärker in den Fokus.
Während Washingtons Hilfspakete für Kiew ins Stocken geraten, zieht Berlin Konsequenzen – und forciert die Aufrüstung der Bundeswehr. Die Bundesregierung hat in diesem Zuge ein milliardenschweres Finanzpaket zur Stärkung der Bundeswehr verabschiedet.
Insgesamt sollen zusätzlich rund 100 Milliarden Euro in die Modernisierung der Truppe fließen – ein historischer Schritt, der die lange vernachlässigte Verteidigungsfähigkeit Deutschlands verbessern soll. Tatsächlich spürbar dürfte das aber nicht sofort werden.
"Geld allein richtet es eben nicht", meint der Militärhistoriker Sönke Neitzel im Interview mit "Bild". Reformversuche der vergangenen Jahre seien demnach immer im Sande verlaufen, weil sie nur Teilbereiche der Bundeswehr betroffen hätten.
Auch bei dem nun von SPD und Union geplanten Sondervermögen für die Bundeswehr mangelt es ihm zufolge an Weitblick dafür, dass eine Reform mehrere Bundesministerien mit einschließen müsse.
Im Gespräch fordert er künftig einen gesonderten Ausschuss des Kabinetts für militärische Angelegenheiten, um etwa Verwaltungsapekte besser berücksichtigen zu können.
"Ein Kanzler, wenn er denn Merz heißt, muss wirklich sagen: 'Das ist unser Kabinettsprojekt! Das hat jetzt Priorität'", betont Neitzel. Er ist Lehrstuhl-Inhaber für Militärgeschichte an der Universität Potsdam und derzeit der einzige Professor für Militärgeschichte in Deutschland.
In seinen Augen spielt vor allem der Faktor Zeit eine wichtige Rolle bei der Reformierung der Bundeswehr. "Wenn wir mit dieser Geschwindigkeit weiterbauen, dann sind erst in 40 Jahren die Kasernen erneuert", stellt er etwa in Bezug auf die Truppe klar.
Nötig wäre laut Neitzel eigentlich eine andere Zeitrechnung. Bis zur Herstellung der vollständigen Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr brauche es etwa 20 Jahre, gerechnet ab der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim im Jahr 2014.
"Reformen von Militärstrukturen sind immer lange Prozesse und es geht nie über Nacht", sagt der Historiker. Auch in Zeiten des Friedens müsse es Deutschland aber gelingen, die Reformen bis 2035 abgeschlossen zu haben.
Damit Merz als "großer Kanzler" in die Geschichte eingehen kann, müsse ihm der Spagat zwischen Verteidigungsfähigkeit und deutscher Verwaltung gelingen.
Nicht nur im Bereich der Ausstattung der Truppe, auch bei der Munition und einer unabhängigen Aufklärungsarbeit attestiert er der deutschen Verteidigung große Defizite.
Dem aktuellen Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius stellt er in diesem Zuge kein gutes Zeugnis aus. "Ich nehme den Minister im Hinblick auf Bundeswehrreform gar nicht wahr!", kritisierte er in der "Bild". Seine vorherige Reform der Bundeswehr sei ohne tatsächliche Erfolge versandet.
Neitzel wurde in der Vergangenheit immer wieder damit zitiert, dass sich Europa aktuell vor dem "letzten Sommer ohne Krieg" befände.
Auch im Bild-Interview unterstrich der Militärexperte, dass dieser Ausdruck, "leider nichts völlig Irreales mehr" sei. Aus diesem Grund müsse Deutschland in der Lage sein, im Bündnisfall verteidigungsfähig zu sein.