Triggerwarnung: Im folgenden Text werden Suizid und Gewalterfahrungen thematisiert, die belastend und retraumatisierend sein können.
In gerade einmal einer Stunde, 36 Minuten und wohl ein paar ewig wirkenden Sekunden kurz vor dem Hauptbahnhof kann man mit dem ICE von Hamburg nach Berlin fahren. Mit dem Auto braucht man ein bisschen länger, je nachdem wie viel auf der Autobahn gerade los ist.
Robert Müller hat die Strecke vor einigen Wochen ebenfalls auf sich genommen. Allerdings hat er sich gegen den Zug entschieden und auch das Auto stehen gelassen. Er ist die knapp 300 Kilometer gelaufen – zu Fuß, wie andere einen Halbmarathon.
Anlass war an jenem Sonntag im Juni der erste Nationale Veteranentag. Neben deftig riechenden Schnitzelbuden, schäumenden Zapfhähnen und von Rockmusik geprägten Bühnenshows stehen Dutzende Männer in Tarnkleidung am Ufer der Spree. Wären da nicht ihre Outfits, könnte dieser Sonntag in Berlin wie ein ganz gewöhnliches buntes Volksfest aussehen.
Auch Robert wirkt erst einmal "nur" wie ein klassischer Highperformer. Er kam mit 19 über den Wehrdienst zur Bundeswehr, stieg dort schnell auf, mit 20 fand er sich im Rahmen seines ersten Auslandseinsatzes im Kosovo wieder. Drei Jahre später flog er mit der Bundeswehr nach Afghanistan. Heute ist er 46, Pensionär und Ultramarathonläufer, hat noch immer "viel Testosteron in sich", so sagt er selbst mit einem müden Lächeln.
Auf den ersten Blick könnte diese Biografie beinahe als Werbekampagne für die Bundeswehr durchgehen. Doch was diese auslässt, ist entscheidend: Denn zwischen den harten Fakten liegen Nahtoderfahrungen, verstorbene Kamerad:innen und geborgene Leichen – vor allem aber eine Geschichte, die vor lauter Debatten um eine Wiedereinführung der Wehrpflicht und Kritik an Aufrüstung noch immer zu kurz kommt.
Seit mehr als 20 Jahren leidet Robert Müller unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, kurz PTBS.
Die Diagnose erhielt der frühere Fallschirmjäger zwar schon kurz nach seinem Afghanistan-Einsatz, dort wurde er bei einer Raketenexplosion schwer verwundet. Das Trauma aber bricht erst Jahre später aus.
Dabei waren die Anzeichen aus heutiger Sicht schon früher eindeutig: "Ich habe nur noch vier Stunden geschlafen über Wochen, Monate", erzählt er im Gespräch mit watson. "Ich habe eine Ess- und Trinkstörung entwickelt und bin hochaggressiv gewesen."
Beinahe zufällig bricht Müller 2009 vor einer Ärztin zusammen, die ihn wegen eines stressbedingten Hautausschlags behandeln soll. Der Afghanistan-Einsatz liegt zu diesem Zeitpunkt schon sieben Jahre zurück.
Wenn Robert Müller heute über seine Erkrankung spricht, wirkt er reflektiert, spricht ruhig und bedacht. Das dürfte auch daran liegen, dass der Veteran infolge der schwierigen Anerkennung von PTBS in den 10er-Jahren von einer Talkshow in die nächste getingelt ist. Und dafür seine Ehe zerbrechen ließ, wie er heute sagt.
Damals war PTBS in der Bundeswehr noch längst kein Thema. "Das war ein Stigma und diesen Stempel wollte keiner haben", erzählt Müller. Gerade unter Kamerad:innen habe man nicht über Emotionen gesprochen.
Er berichtet von zügellosem Alkoholkonsum in den Kasernen, von Verdrängung und vom toxischen Ratschlag eines Kasernenarztes zu seiner PTBS: "Wenn man vom Fahrrad fällt, dann muss man auch gleich wieder aufsatteln."
2012 schreibt Robert Müller das Buch "Soldatenglück" und beschreibt darin nicht nur sein eigenes, sondern die Schicksale mehrerer traumatisierter Bundeswehrsoldaten – bis dahin, ein absolutes Tabuthema.
Müller selbst gilt seit mehr als zehn Jahren als austherapiert, die Symptome der PTBS sind aber noch immer allgegenwärtig. Vor zwei Jahren hat er versucht, sich selbst das Leben zu nehmen – erfolglos. "Zum Glück", sagt er heute. Suizidgedanken hat er aktuell keine mehr – geholfen hat ihm eine Delfintherapie in Curaçao. Finanziert wurde das Ganze durch eine Stiftung, nicht durch die Bundeswehr.
Genau hier sieht Robert Müller noch immer Nachholbedarf. "Wer 100 Milliarden bekommt für Kriegsgerät, der kann doch mal eine Milliarde ausgeben für vernünftige Ärzte oder Delfintherapie", sagt er.
Denn wie ihm dürfte es Tausenden Veteran:innen gehen. 500.000 Soldat:innen waren mit der Bundeswehr bisher in Auslandseinsätzen, schätzungsweise sind mindestens 20.000 von ihnen von PTBS betroffen.
Das Verteidigungsministerium hat mit Dr. Peter Zimmermann mittlerweile einen eigenen Beauftragten für den gesamten Bereich.
Wer heute in einem Bundeswehr-Einsatz verwundet wird, bekommt eine sehr gute Versorgung, auch ehemalige Einsätze werden berücksichtigt. In Bezug auf PTBS werden Soldat:innen und Vorgesetzte deutlich besser geschult. "Inzwischen haben wir das beste Einsatzversorgungspaket, was es für Soldaten auf Nato-Basis gibt", bestätigt Robert Müller.
Also mittlerweile alles Friede, Freude, Eierkuchen bei der Bundeswehr? Nicht wirklich. Da wären zum einen die Männer wie Robert Müller, die es in Deutschland zu Dutzenden gibt. Viele von ihnen kämpfen noch immer mit ihren Traumata und den Folgen.
Auf der anderen Seite sind da die jungen Menschen, die sich noch immer mehrheitlich gegen eine Wiedereinführung der Wehrpflicht aussprechen. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein.
Aber auch die Erzählungen von Robert Müller machen nicht unbedingt Lust, für das eigene Land in Tarnkleidung zu schlüpfen. "Man muss sich bei der Bundeswehr eingestehen, dass wir hier ganz klar PTBS-Patienten schaffen", sagt er.
Zur Wahrheit gehört aber, dass nicht jede:r Bundeswehrsoldat:in auf potenziell traumatisierte Einsätze im Ausland geschickt wird. Und so spricht sich auch Müller im Gespräch für eine Wehrpflicht aus – mit Möglichkeit auf einen Freiwilligendienst, etwa in der Pflege: "Es muss keiner an die Waffe."
"Aber jemand, der in Deutschland lebt, kann auch was zurückgeben", sagt der Veteran.
Wenn er von seinem eigenen Dienst spricht, ist in seinen Augen noch immer ein gewisses Funkeln zu erkennen. Groll auf seinen ehemaligen Arbeitgeber empfindet er keinen. Er habe in seinen Einsätzen "coole Sachen" erlebt, viele Erfahrungen sammeln dürfen.
Den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr bezeichnet auch er zwar als "Vollkatastrophe". Zum Krieg allgemein aber hat der Veteran eine klare Haltung.
"Krieg gehört zur Menschheit", meint er. "Einige glauben, die Menschen könnten in Frieden miteinander leben. Aber ein Blick in die Tierwelt zeigt uns was anderes."
Ein solches Argument wird vor allem von Unterstützer:innen der Bundeswehr immer wieder genannt. Unter Kulturhistoriker:innen allerdings ist dieses sehr umstritten. "Dass der Mensch des Menschen Wolf sei und eine zutiefst kriegerische Natur besitzt, ist ein Fantasma, das wie ein roter Faden seit mehr als zweitausend Jahren durch die Kulturgeschichte führt", sagte etwa Archäologe Harald Meller im vergangenen Jahr dem "Spiegel".
Für Robert Müller allerdings scheint eine Unterstützung anderer Kriege für Deutschland gewissermaßen eine Notwendigkeit. "Wir wollen alle Auto fahren und wir wollen alle heizen. Und dieser Luxus ist immer auf den Rücken anderer auszukämpfen", erklärt er.
Noch immer betont Müller in Gesprächen, wie wenig Anerkennung Soldat:innen in Deutschland bekämen. Auf den ersten Veteranentag blickt er daher optimistisch.
Auch seine eigenen Werte scheinen noch heute auf einem gewissen Gefühl von Gemeinschaft zu beruhen. "Ich habe gewissermaßen mit der Menschheit abgeschlossen", sagt der Ex-Soldat aber dann. Und genau hier scheint sich die Ambivalenz der Bundeswehr zu spiegeln: irgendwo zwischen frohem Volksfest-Gefühl und tiefer Dunkelheit.