Triggerwarnung: Im folgenden Text werden Gewalthandlungen geschildert, die belastend und retraumatisierend sein können.
Um vier Uhr morgens schrillte der Alarm auf einer kleinen, steinigen Insel im Schwarzen Meer. Der eisige Februarwind zwickte wie Nadelstiche auf den erhitzten Wangen. Die Wellen peitschten gegen die Felsen. Für den Ukrainer Vlad Zadorin begann der längste Tag seines Lebens.
Seit 2019 diente er im ukrainischen Militär. Drei Jahre später sollte er zu jener Truppe gehören, die weltberühmt wurde, als Russland den völkerrechtswidrigen Großangriff auf die Ukraine startete.
Vlad erinnert sich gut an den Tag. Wie das Schiff des Feindes am Horizont auftauchte, die Moskwa. "Erst spionierten sie uns aus, dann beschossen sie uns, aber verfehlten ihr Ziel", sagt der Veteran im Gespräch mit watson.
In den Morgenstunden am 24. Februar 2022 wollte ein russischer Raketenkreuzer die Schlangeninsel einnehmen.
Das Eiland gehört zur Oblast Odessa und liegt 200 Kilometer von der Krim sowie mehr als 500 Kilometer vom Donbass entfernt. Nur wenige Menschen lebten zu diesem Zeitpunkt auf der Insel, nur wenige Soldaten waren an diesem Morgen dort stationiert.
Die Russen verlangten über Funk, die ukrainischen Soldaten sollen sich ergeben. Daraufhin konterte Vlads Kamerad Roman Hrybov trocken: "Russisches Kriegsschiff, f*** dich selbst".
Ein Spruch, der zum Synonym für den ukrainischen Widerstandswillen werden sollte, doch davon erfuhren Vlad und seine Kameraden erst später. Für sie begann der Kampf ums Überleben.
"Wir haben um einen grünen Korridor für die Zivilisten gebeten, auch für unsere Ingenieure und Angestellten für den Leuchtturm und Hafen", sagt der Veteran. Alle bis auf zwei wurden evakuiert. Über Funk erhielten die Schlangeninsel-Soldaten von ihren Vorgesetzten grünes Licht, sich zu ergeben.
"Doch wir blieben. Wir alle haben einen Schwur geleistet, unser Land zu schützen", meint Vlad.
Die Russen griffen die Insel erneut an. Diesmal stärker und auch zielgenauer, erinnert sich der Ukrainer. Es dämmerte bereits und die Nacht zog auf. "Für einen Nachtkampf waren wir nicht ausgerüstet. Wir hatten keine Chance", sagt er. Russische Soldaten nahmen die Insel ein.
Es hieß, Vlad und seine Kameraden sollen erschossen werden. Gefesselt auf einem Pier warteten sie einen halben Tag lang auf den Tod. Aus Sekunden wurden Stunden, das Herz raste, die Finger und Zehen waren taub, eiskaltes Meereswasser spritzte ständig auf sie.
"Es war stürmisch. Sie ließen uns draußen auf dem Boden liegen, jederzeit bereit für die Exekution, und dann entschieden sie sich doch plötzlich, uns als Gefangene mitzunehmen", sagt Vlad.
Er überlebte.
Aber für ihn begann ein 679-tägiger Albtraum in russischer Gefangenschaft.
Die Russen sperrten Vlad und seine Kameraden in ein Gefangenenlager ein. Währenddessen machte der legendäre Funkspruch weltweit Schlagzeilen. Auf Social Media wurden die Männer als Helden gefeiert, die sich dem russischen Kriegsschiff mutig widersetzten.
Vlad und seine Kameraden gelten bis heute als Symbol für die unterlegene Ukraine, die sich dem überlegenen russischen Aggressor entscheidend entgegenstellt.
Zunächst hieß es damals, die Schlangeninsel-Soldaten seien bei dem Angriff ums Leben gekommen. Erst später bestätigte die ukrainische Marine, dass sie sich in russischer Gefangenschaft befinden. Doch auch hier waren sie dem Tod jeden Tag nahe.
"Ich dachte mir nur: Überleben um jeden Preis", sagt Vlad. Hunger, Schläge, Folter gehörten nun zu seinem Alltag. Vlad erinnert sich: "Wenn dir die Kraft ausgeht, setzen sie einen Elektroschocker ein. Sie setzten den Taser überall ein – in unserem Mund, an den Genitalien und sogar im Rektum."
Der Ukrainer spricht auch von sexualisierter Gewalt. Einige wurden zu Tode geprügelt. Die Russen quälten laut ihm die Gefangenen mit barbarischen Foltermethoden. Etwa wurde einem Kameraden die Zunge wie bei einer Schlange in zwei Teile geschnitten. Die Zähne wurden mit einer Zange gelockert, sodass sie mit der Zeit ausfallen.
In der Heimat stieg währenddessen ihre Popularität an. Der berühmte Spruch "Russisches Kriegsschiff, f*** dich selbst" schmückte Briefmarken, Patches, Aufkleber und Plakate in ukrainischen Städten.
Von all dem erfuhren Vlad und seine Kameraden erst, als einer der Aufseher ihnen ein Video auf seinem Handy zeigte. "Keine Ahnung, warum er das tat. Er war der Einzige, der nicht so brutal war", meint Vlad. Dass der Funkspruch solche Wellen schlagen würde, überraschte ihn zunächst.
"Meinem Kameraden ist der Satz einfach so rausgerutscht. Er hat sich dabei nichts gedacht", sagt Vlad. Aber im Nachhinein versteht er, dass der Vorfall die Motivation und Moral der Ukrainer:innen gestärkt habe. Laut ihm habe der Satz gezeigt: "Wenn wir schon sterben müssen, dann mit einem lauten Knall und ungebrochen."
Auch die Gefangenschaft sollte die Schlangeninsel-Soldaten nicht brechen. "Wir aßen Klopapier, Würmer, Mäuse, Nacktschnecken, um zu überleben. Das Brot bestand aus Sand und Sägespänen", erklärt Vlad.
Es sei die Hölle auf Erden gewesen. Vlad vergleicht es mit Zuständen in damaligen deutschen Konzentrationslagern – nur ohne die Vergasung. Er habe dazu ein Buch von einem Auschwitz-Überlebenden gelesen und die Schilderungen erinnern ihn an seine Erfahrungen.
Was ihn am Leben hielt: Die Hoffnung, seine Familie wiederzusehen. Auch war es laut ihm immens wichtig, mit wem er sich eine Zelle teilte. Ohne Kameradschaft überlebe man so einen Ort nicht, meint er. Bis heute stehe er mit den Männern in engem Kontakt.
Vlad hatte Glück und gehörte zu jenen, die durch einen Austausch zurück in die Heimat gelangten.
Durch die Gefangenschaft erlitt er Gallensteine, ein Schädel-Hirn-Trauma, beschädigte Halswirbel, verfaulte Finger und ein ausgekugeltes Becken. Bei seiner Rückkehr bestand er aus Haut und Knochen, ganze 60 Kilogramm hatte er verloren.
An die Front kann er nicht zurückkehren. Das schaffe sein Körper nicht. Bis heute befindet sich der junge Ukrainer in ärztlicher Behandlung. Aber er setzt seinen Kampf gegen den Angreifer Russland dennoch fort.
Vlad unterstützt andere ehemalige Gefangene und dient ihnen als Stütze, wenn sie nach Hause kehren. Zudem bekämpft er russische Desinformation mit dem Projekt "Break the Fake". Dabei hält er Workshops und Vorträge in der Ukraine und in anderen europäischen Ländern.
Seine Mission: Europäer:innen aufklären, was auf sie zukäme, sollten sie Russland nicht Einhalt gebieten.