An diesem Abend soll geredet werden, endlich. Im Chemnitzer Stadion will Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer mit rund 500 Bürgern das Gespräch suchen.
Währenddessen baut sich am dritten Demo-Tag in Chemnitz vor dem Stadion eine Menschenmenge auf, die nicht diskutieren will. Knapp tausend Rechtsextreme sind gekommen. Für sie ist Kretschmer ein "Volksverräter".
Das Bündnis "Chemnitz Nazifrei" fehlt an diesem Abend. Man könne am Donnerstag nicht erneut demonstrieren – aus Sorge, nicht von der Polizei geschützt zu werden.
Wie geht es weiter in dieser Stadt, die durch die Ausschreitungen Rechtsextremer international in der Kritik steht? Mit den Behörden, die die Gefahr von Rechts unterschätzten? Mit den Menschen, die sich um das Image ihrer Stadt sorgen, mit jenen, die Angst haben und denen, die sich nach wie vor für ein friedliches Zusammenleben einsetzen? Darauf liefert dieser Abend keine Antworten.
Bei der Kundgebung von "Pro Chemnitz" wollen die Anwesenden erst mal klarstellen: Bilder, wie die vom Montag will man heute auf jeden Fall verhindern. "Nette Grüße mit dem rechten Arm gen Himmel werden heute rigoros mit Platzverweis bestraft", verkündet einer der Organisatoren durch das Mikrofon. Nette Grüße. Gemeint sind die Hitlergrüße, die bei den Demonstrationen am Montag gleich mehrfach von Rechten gezeigt worden waren.
Die verklausulierte Verharmlosung zeigt, wie groß hier der Graben zwischen Selbstwahrnehmung und Realität ist. Und auch, wie schwer der Dialog wirklich ist.
Die Organisatoren haben aus den Krawallen am Montag also nichts gelernt, geschweige denn mitgenommen. Wollen die Rechtsextremen die aggressiven Demonstranten nun besser in Schach halten? Nicht wirklich.
Als der "Pro Chemnitz"-Vorsitzende Martin Kohlmann später ans Mikrofon tritt, wird deutlich, worum es ihm eigentlich geht: Die Schuld für die Eskalation soll anderen zugeschoben werden. Die Hitlergrüße seien inszeniert gewesen, ruft Kohlmann, und spricht damit wohl vielen Teilnehmern der Kundgebung aus der Seele.
Schon seit Tagen verbreitet sich diese Behauptung rasant in den sozialen Medien. Die Hitlergrüße seien von eingeschleusten Provokateuren gezeigt worden, um die Demonstration zu diskreditieren.
Einen Beweis dafür hat bislang niemand geliefert. Dennoch ist diese Desinformationskampagne erfolgreich. Viele der Demonstranten und deren Sympathisanten im Netz scheinen die Theorie unhinterfragt zu glauben.
Kohlmanns krude Erklärung: Der Fernsehsender RTL und die linken Gegendemonstranten seien Schuld. Die zwei "Grüßlinge" hätten sich hinterher sehr freundlich mit einem RTL-Kameramann unterhalten, ein weiterer sei beobachtet worden, wie er "ganz freundschaftlich in der Antifa-Demo stand".
Beweise für diese Aussagen bleibt Kohlmann schuldig, aber darum geht es ihm auch gar nicht. Die Neonazi-Parolen seien lediglich von "ganz einzelnen Leuten" gerufen worden, fabuliert der "Pro Chemnitz"-Vorsitzende weiter. Mit der Wahrheit nimmt er es offenbar nicht ganz genau, wenn es darum geht, das Image seiner Demonstrationen zu verteidigen.
Auf explizite Nachfrage will sich Kohlmann auch nicht von ganz offenen, knallharten Neonazis distanzieren. Am Montag war auch die rechtsextreme Kleinpartei "Der dritte Weg" in Chemnitz mitgelaufen. Sie wird vom Verfassungsschutz beobachtet. Er könne und wolle niemanden ausschließen, solange der seine Demo nicht störe, sagt Kohlmann.
Schon kurz nach der Demonstration am Montag zeigte Kohlmann, wie wenig Berührungsängste er mit den Neonazis vom "Dritten Weg" hat, und gab dem von der Kleinpartei betriebenen "Nationalrevolutionären Radio" ein Interview. Zum Umfeld des "Dritten Wegs" gehören auch verurteilte Rechtsterroristen.
Während weder Kohlmann, noch seine Mitdemonstranten als Rechtsextreme bezeichnet werden wollen, entspringen die Redebeiträge und Parolen des Donnerstags jedoch fast alle dem Repertoire der extremen Rechten. Es geht um die "Lügenpresse", die Tatsachen verdrehe, um eine angebliche "Überfremdung" Deutschlands, die von der Regierung gesteuert werde. Und immer wieder rufen die Anwesenden in einem hässlichen Chor "Volksverräter".
Zwischendrin kommt es immer wieder zu grotesken Momenten. Zum Beispiel als die Versammelten pseudo-feierlich die Nationalhymne anstimmen – und dabei mit ihren Handys ein Lichtermeer anknipsen.
Immerhin bleibt die Kundgebung am Donnerstag friedlich. Die sächsische Polizei hatte dieses Mal Unterstützung angefordert. 1200 Polizisten aus fünf Bundesländern waren laut Sachsens Innenminister Roland Wöller (CDU) im Einsatz.
Anders als am Montag stehen den Rechtsextremen keine Gegendemonstranten wie die Mitglieder des Bündnis' "Chemnitz Nazifrei" gegenüber.
Manche, die am Montag gegen die Rechtsextremen demonstriert haben, sind trotzdem gekommen – um sich am "Sachsengespräch" im Stadion zu beteiligen.
Einer von ihnen ist Marius. Er ist in Chemnitz aufgewachsen und studiert dort. Während er auf den Einlass ins Stadion wartet, sagt Marius:
Er spricht von einer verfehlten Politik der vergangenen Jahrzehnte, die dazu geführt habe, dass die Demonstrationen am Montag nicht richtig abgesichert worden seien. Als Flaschen und Feuerwerkskörper geflogen sind, hätte die Demo gestoppt werden sollen, findet er. "Dass die nicht aufgelöst wurde, ist ein Zeichen für ein Versagen der Polizei."
Felicia Kollinger-Walter war am Montag nicht auf der Straße – aus Angst. "Ich habe eine elfjährige Tochter zuhause und mein Mann war unterwegs. Und da hab ich gedacht, nee, was ist, wenn was passiert." Jetzt will sie aber zeigen, dass nicht ganz Chemnitz so tickt, wie die Demonstranten vom Montag.
Auf ihrem Shirt steht "Kein Hass in meinem Namen". Felicia Kollinger-Walter glaubt, dass sie mit dieser Meinung auch in Chemnitz noch in der Mehrheit ist. "Es haben nur noch zu viele Angst, das öffentlich zuzugeben."
Während draußen lauthals protestiert und gebrüllt wird, geht es im Stadion leiser zu. Gestritten wird trotzdem.
Eigentlich sollte die Veranstaltung nur eine von mehreren im ganzen Bundesland sein, ohne viel Trara und bundesweite Aufmerksamkeit. Jetzt wird es für Sachsen Ministerpräsident Michael Kretschmer und die Chemnitzer Oberbürgermeisterin Barbara Ludwig unangenehm. Die Proteste und Krawalle der vergangenen Tage bestimmen den gesamten Abend.
Rund 500 Bürger sind gekommen. Auch hier entlädt sich: Wut.
Oberbürgermeisterin Ludwig wird für ihren Aufruf zur Mäßigung und friedlichem Zusammenleben heftig ausgebuht. Vereinzelt wirft man ihr hier "Heuchelei" vor.
Auch Kretschmer ruft die Chemnitzer Bürger dazu auf, sich von Rechtsextremen zu distanzieren. Die Stimmung bei den Kundgebungen habe dazu geführt, dass mancher "völlig außer Rand und Band" geraten sei. "Dem müssen wir alle miteinander, mit aller Kraft, entgegentreten."
Es sind müßige Gespräche für den zuletzt viel kritisierten Ministerpräsidenten. Auch er wird heftig ausgebuht, als er das Engagement der Band Kraftklub lobt. Die Chemnitzer Band veranstaltet am Montag gemeinsam mit anderen Bands ein großes Anti-Nazi-Konzert in der Stadt. Die Reaktion: "Hau ab!"
Der CDU-Politiker wendet sich gleichzeitig dagegen, allen Chemnitzern die rechtsextremen Attacken zuzuschreiben. Er habe viele Menschen getroffen, die sich ungerecht behandelt fühlen, sagt er über vorangegangene Gespräche mit Bürgern. "Ich weiß das. Das ist nicht so und wir werden diesem Eindruck auch mit Kraft entgegen treten."
Das Image der Stadt, das scheint hier das entscheidende Thema. Sachsens anwesender Landtagspräsident Matthias Rößler (CDU) tut sich mit einem in der Situation doch eher befremdlichen Vorschlag hervor: Er will, dass Chemnitz sich als Kulturhauptstadt 2025 bewirbt.
Das Rassismus-Problem bleibt eine Randnotiz. Mal wieder.
(Mit Material von Reuters und dpa)