Mit Blick auf die angespannte sicherheitspolitische Lage will die künftige schwarz-rote Bundesregierung den Wehrdienst in Deutschland neu aufstellen. Statt einer verpflichtenden Einberufung junger Menschen setzt der Koalitionsvertrag auf ein freiwilliges Modell. Während viele wohl innerlich aufatmen, sorgt dieser Plan auch für massive Kritik – vor allem bei jenen, die sich mit Militär und Sicherheit hauptberuflich beschäftigen.
Im "ntv-Salon" machten zwei bekannte Experten ihrem Unmut Luft: der Militärhistoriker Sönke Neitzel von der Universität Potsdam und der Politikwissenschaftler Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität München. Beide sind sich einig: Mit Freiwilligkeit wird Deutschland seine Sicherheitslücken nicht schließen können.
"Diese Sache mit der Freiwilligkeit … da musste ich mich erst mal ärztlich versorgen lassen": So drastisch formulierte es Sönke Neitzel, als er im Gespräch mit ntv auf den Koalitionsvertrag zu sprechen kam. Zwar sieht der Vertrag eine Anlehnung an das schwedische Modell vor, doch das Konzept sei verwässert, kritisiert er.
In Schweden werden alle 18-Jährigen zunächst zur Musterung eingeladen. Reichen die Freiwilligen nicht aus, werden gezielt Personen zum Dienst verpflichtet.
In Deutschland hingegen sollen nur Freiwillige eingezogen werden. Neitzel hält das für unrealistisch: "Wir müssen die Wehrpflicht wieder einführen", sagte er. Nicht nach dem alten Modell – das sei bei den heutigen Jahrgangsgrößen nicht machbar. Doch fünf Prozent eines Jahrgangs gezielt einzuziehen wie in Schweden hält er für sinnvoll. Ohne verpflichtende Komponente sei das Vorhaben zum Scheitern verurteilt.
Neitzel spart nicht mit Kritik – auch nicht an den Koalitionsparteien selbst. Besonders die SPD bekommt ihr Fett weg: Pistorius hatte schon in der letzten Legislatur ein verpflichtendes Modell vorgeschlagen – vergeblich. Laut Neitzel wurde er damals von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgebremst. "Der Mann hat leider, muss man sagen, dem Land schweren, schweren Schaden zugefügt. Denn wir haben einfach ein Jahr Zeit verloren."
Dass nun erneut ein Modell ohne Pflicht geplant sei, wäre unverständlich. "Jetzt ist die SPD offenbar ein Sicherheitsrisiko", findet Neitzel gar. Wenn man das schwedische Modell nicht konsequent umsetze, brauche man es gar nicht erst versuchen: "Wer das nicht begreift, sollte auch kein Regierungsamt übernehmen."
Auch der Politologe Carlo Masala sieht in der aktuellen Freiwilligenlösung keine Antwort auf das Personalproblem der Bundeswehr. Seit Jahren versuche man, die angestrebte Truppenstärke von 203.000 Soldat:innen zu erreichen – bislang ohne Erfolg. Aktuell seien rund 183.000 im Dienst. Und die Anforderungen an die Bundeswehr werden steigen, vor allem nach dem nächsten Nato-Gipfel.
Masala rechnet mit einem zusätzlichen Bedarf von rund 30.000 Kräften. Seine Einschätzung: "Wir kriegen die Lücke […] jetzt schon seit zehn Jahren nicht geschlossen." Um das zu ändern, müsse die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr umfassend gestärkt werden.
Neben der Personalfrage sei dabei auch das Selbstverständnis der Truppe entscheidend: "Das Mindset in der Truppe muss sich ändern. Es ist nicht auf Landesverteidigung und Bündnisverteidigung eingestellt."
Beide Experten fordern, die Reform der Bundeswehr zur Chefsache im Kabinett zu machen. Ein einzelner Minister könne das nicht leisten, meint Neitzel. "Ein Verteidigungsminister ist immer nur einer von 16 oder 17 Kabinettsposten." Die Komplexität der Aufgabe erfordere ein abgestimmtes Vorgehen aller relevanten Ressorts.
Masala unterstützt die Idee eines Kabinett-Unterausschusses, wie es ihn etwa in Großbritannien gibt. Ziel: gezielte Maßnahmen koordinieren, Ressourcen bündeln – und die Bundeswehr endlich einsatzbereit machen. Neitzel formuliert es deutlich: "Die Politik sagt 'Zeitenwende' und denkt, jetzt ist es geschehen. Nein, es passiert erst mal gar nichts."