"Es gibt eine kleine Stadt, beinahe vollkommen zerstört. Wissen Sie, was die Russen dort als Erstes aufgebaut haben? Ein wunderschönes Museum." Die Ukrainerin Olesya Milovanova spricht schnell, aber bedacht. Es liegt ihr viel auf dem Herzen.
Sie erlebte 2014 die Kämpfe der von Russland unterstützten Separatisten in der Region Luhansk und überlebte die Großoffensive Russlands im Februar 2022. Als Museumsdirektorin geriet sie ins Visier der Russen und wagte eine gefährliche Flucht mit ihrem Sohn.
Zuvor setzte sie ihr Leben aufs Spiel, um andere Ukrainer:innen zu schützen.
Die Leidenschaft für Geschichte und Kultur wurde ihr in die Wiege gelegt. Schon ihre Mutter arbeitete als Museumsdirektorin. 2015 wurde Olesya Leiterin des "Luhansk Regional Museum Local Lore". Sie beaufsichtigte zudem 18 weitere Museen in der Region Luhansk Oblast auf der ukrainischen Seite der Front.
"Nach Politikern sind Lehrer und Kulturschaffende wie ich ein Angriffsziel der Russen", sagt Olesya im Gespräch mit watson. 2014 versuchten sie es zunächst mit ihrer "Bezirz-Taktik". "Denn sie brauchten uns für ihre Propaganda, um die prorussische Bevölkerung für sich zu gewinnen", sagt die Ukrainerin.
Die Russen "umgarnten" Olesya; wollten sie mit "verlockenden" Angeboten um den Finger wickeln, damit sie mit ihnen kooperiert. Im Hintergrund schmiedete die Historikerin andere Pläne.
Seit 2014 begann sie Dokumente und Informationen über den russischen Überfall zu sammeln. Anfangs habe sie Material vom ukrainischen Militär erhalten. "Was aber immer mehr abnahm, da es zu gefährlich wurde", sagt sie. Aber sie machte weiter. "Ich sammelte Geschichte."
Mit dem Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 änderte sich ihre Situation massiv.
"2022 war der Angriff sehr gewaltsam, mit schwerer Artillerie. Weitere Gebiete wurden rasch eingenommen", erinnert sie sich. Über einen Chat blieb sie in Kontakt mit ihrem Team. Olesya ahnte, dass die bisherige, nette "Bezirz-Taktik" vorbei sei und floh zu ihrer Mutter.
Mit dem Großangriff Russlands zog der Terror ein, meint sie. "Es gab kein Bargeld und keine Medikamente, alle Supermärkte waren leer oder geschlossen. Die Menschen hungerten, dazu der entsetzliche Stress. Es machte uns krank", beschreibt sie die ersten Tage unter russischer Besatzung.
Im Gedächtnis sei ihr vor allem eine 80-jährige Nachbarin geblieben. Ihr einziger Sohn kämpfte laut Olesya in der ukrainischen Armee. "Bis zu 15 Russen stürmten das Haus, drohten ihr, um Informationen zu erhalten. Der Lärm war unerträglich. Fast alle Frauen aus der Nachbarschaft gingen hinein und konnten sie retten."
Sie erinnert sich auch an die Leichen auf den Straßen: erschossen oder verhungert. Russland habe laut ihr willkürlich Menschen entführt oder in unbeheizten Zelten gefangen gehalten – auch Frauen und Kinder. Eine Freundin von Olesya nahmen die Soldaten fest.
Die Frau verschwand drei Wochen von der Bildfläche, dann plötzlich ein Lebenszeichen auf Social Media. "Sie schrieb, sie wolle Russland unterstützen", sagt Olesya. Sie blickt ins Leere, sammelt sich für wenige Sekunden. "Die Russen haben sie gefoltert und dazu gezwungen", vermutet sie.
Selbst Ukrainer:innen, die nichts mit Politik oder Kultur am Hut hatten, gerieten ins Visier der Russen. Der Vater einer ihrer Kolleg:innen lebte als Bauer im Umland. "Er dachte, er wäre sicher als politisch neutral eingestellter und alter Mann. Doch auch ihn besuchten und folterten die Russen", sagt sie.
Es dauerte nicht lang und sie fanden Olesya.
"Die Russen kontaktierten mich und machten mir ein Angebot, mit ihnen zu kooperieren. Ich würde mehr Geld und viele Projekte erhalten", hieß es. Olesya wusste: Sie muss fliehen. "Ich konnte das Angebot nicht ausschlagen, sie hätten mich sofort verhaftet."
Doch bevor sie die Flucht antrat, plante sie eine noch viel gefährliche Aktion: ins Museum einbrechen und all die sensiblen Informationen sichern.
Zur Erinnerung: Olesya sammelte seit 2014 Informationen zur russischen Besatzung. Darunter auch Kontakte zur ukrainischen "Anti-Terror-Operation" und "Joint Forces Operation". Daten, die Menschen in Lebensgefahr bringen, gelangen sie in russische Hände.
"Das war das Wichtigste, was ich aus dem Museum 'retten' musste", meint die Ukrainerin. Obwohl überall russische Soldaten mit Gewehren herumliefen, schlich sie sich mit einer Gruppe ins Gebäude. Es gelang ihnen, das Material sowie den Computer zu "stehlen".
In ihrem Garten vernichteten sie die mühsam gesammelten Dokumente – ein Stück Geschichte der Ukraine ging in Flammen auf. "Es musste sein. Ich hätte es unmöglich auf meiner Flucht mitnehmen können."
In der Morgendämmerung, als die Russen ruhten, verließ Olesya ihre Heimat. 1981 wurde sie dort in Starobilsk in der Region Luhansk geboren. Acht Jahre lang dokumentierte sie die militärische Aggression Russlands und die ukrainische Gegenoffensive. Eineinhalb Monate erlebte sie den russischen Terror durch den völkerrechtswidrigen Großangriff.
Nur dank ihrer Kontakte zum ukrainischen Militär gelang ihr und ihrem achtjährigen Sohn die Flucht nach Lwiw. Sie brauchten drei Tage und in jeder einzelnen Sekunde davon erdrückte sie die Angst, ihr Kind verlieren zu können.
Sie mussten alles zurücklassen, um keine Aufmerksamkeit zu wecken. Auch die Kunstwerke aus ihrem Museum konnte sie unmöglich retten. Nun missbraucht der Kreml sie für Propagandazwecke.
Es befinden sich rund 1,7 Millionen Objekte aus dem staatlichen Teil des "Museum Fund of Ukraine" in den besetzten Gebieten (Stand: Oktober 2024). Das sagt das Ministerium für Kultur und strategische Kommunikation der Ukraine auf watson-Anfrage.
Russland greift gezielt ukrainische Museen an, meint Milena Chorna, Leiterin der Ukrainischen Museumsvereinigung, im watson-Gespräch. Das sei ein klassischer Ansatz der Kolonisatoren, um die Identität der Ukrainer auszulöschen.
In Fällen von Plünderungen sehen die Russen es laut ihr vor allem auf die Artefakte ab. "Denn sie machen die kulturellen Unterschiede zwischen unseren Nationen sichtbar, also etwa antike Manuskripte in ukrainischer Sprache", sagt Chorna.
Russland nutze klassische imperialistische Narrative, um "die fiktive Idee der 'großen russischen Kultur' durchzusetzen", während die ukrainische Kultur zu etwas Nebensächlichem degradiert werde.
"Die Russen verwandeln unsere Museen in Propaganda-Stätten, indem sie das Narrativ der Geschichte ändern", sagt Olesya. Das wisse sie von geflüchteten Ukrainer:innen und nicht verifizierten Quellen auf Social Media. Einen direkten Kontakt zu den Verbliebenen vor Ort habe sie nicht.
"Die Russen wollen mit ihren Ausstellungen in den Museen den Menschen einpflanzen, wie viel die Ukraine mit Russland gemeinsam hätte. Wir wären alle Brüder; alles wäre russisches Land", sagt Olesya.
Langfristig werde Russland damit Erfolg haben.
"Die Kinder von morgen in den besetzten Gebieten werden dem russischen Narrativ glauben und uns sind die Hände gebunden", warnt Olesya. Daher sind Museen so wichtig für den Kreml.
Daher bauten sie in dem kleinen zerstörten Ort in der Region Luhansk als Erstes ein Museum.