
Mit dem Rückzug der USA als verlässlicher Nato-Partner rückt die Türkei als zweitstärkste Streitmacht des Bündnisses in den Fokus.Bild: imago images / turkish Presidency Press Office
Analyse
So schnell kann es gehen: Aus Freund wird Feind. Spätestens nach dem historischen Eklat im Weißen Haus zwischen dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und US-Präsident Donald Trump ist klar: Die Ukraine kann sich auf die USA nicht mehr verlassen.
Das transatlantische Bündnis, das Europa und die USA jahrzehntelang einte, ist nur noch ein hauchzartes Fädchen. Auch das Verteidigungsbündnis "North Atlantic Treaty Organization", die Nato, bleibt von dem politischen Erdbeben nicht verschont.
Die Frage ist, ob Europa den Boden unter den Füßen verliert oder die Schockwelle übersteht. Das Sorgenkind ist und bleibt die Ukraine. Mit ihr stehe die Sicherheit Europas auf dem Spiel, warnen Militärexperten Gustav Gressel und Carlo Masala.
In dieser Situation kommt die Frage auf, wie die zweitstärkste Kraft – die Türkei – reagieren wird.
Welche Rolle die Türkei im Nato-Chaos einnimmt
Bei all dem Wirbel gerät die Türkei beinahe außer Acht. Dabei steht sie Seit' an Seit' mit europäischen und kanadischen Staatschefs und -vertreter:innen beim Krisentreffen nach dem Eklat im Weißen Haus. Und das ist ein gutes Zeichen für Europa – oder?

Beim Krisentreffen in London war auch der türkische Außenminister Hakan Fidan anwesend. Bild: imago images / Sean Kilpatrick
"Die Türkei ist nicht nur wegen ihrer großen Streitmacht und militärischen Ausstattung noch wichtiger, sondern auch, weil sie geopolitisch in der Nachbarschaft der EU wie im Schwarzen Meer, Südkaukasus, Naher Osten eine wichtige Rolle spielt", sagt Politikwissenschaftler Stefan Meister auf watson-Anfrage.
Laut ihm wird sich Europa stärker anderen Nato-Partnern wie der Türkei zuwenden. Möglicherweise könnte die Türkei auch eine größere Rolle bei der Absicherung eines Abkommens in der Ukraine spielen, prognostiziert der Experte von der "Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik".
Türkei-Experte Paul Levin teilt dem Land ebenfalls die Rolle als Vermittler zu. Aber auch militärisch seien die Türk:innen wichtig angesichts der russischen Bedrohung.
Ukraine-Krieg: Nato-Mitglied Türkei besitzt Kampferfahrung
"Nicht nur aufgrund der Größe der türkischen Streitkräfte, sondern auch aufgrund ihrer Kampferfahrung könnte dies ein wichtiger Beitrag sein", sagt Levin auf watson-Anfrage. Er ist Professor an der Universität Stockholm und Leiter des Instituts für Türkei-Studien.
Er weist darauf hin, dass sich die Türkei den russischen Streitkräften auf den Schlachtfeldern in Libyen, Berg-Karabach und Syrien gestellt hat. Seiner Meinung nach war es eine kluge Entscheidung, den türkischen Außenminister Hakan Fidan zu den jüngsten Gesprächen in London einzuladen.
"Die Zusammenarbeit mit der Türkei hat möglicherweise ihren Preis."
Türkei-Experte Paul Levin
Die Türkei habe etwa angeboten, Truppen für eine friedenserhaltende Mission in der Ukraine zur Verfügung zu stellen, wenn es zu einem Waffenstillstandsabkommen kommen sollte.
Aber ist auf das Wort der Türkei Verlass oder könnte sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan von Trump inspirieren lassen und ebenfalls der Nato den Rücken kehren, wenn ihm etwas nicht passt? Denn Fakt ist auch: Die Türkei ist keine einfache Partnerin, wie ihr bisheriges Verhalten im Nato-Bündnis beweist.
Zypern, Kurden, LGBTQIA+-Rechte: Die Türkei und die EU ecken oft an
Hauptstreitpunkt mit den EU-Staaten ist etwa die Zypernfrage. Dieser Konflikt ist Teil einer seit Jahrzehnten andauernden Auseinandersetzung zwischen der Türkei und Griechenland um das Gebiet in der Ägäis. Dazu kommt der Kampf gegen die Kurd:innen und die Unterdrückung von LGBTQIA+-Personen im Land. Die Liste ist lang.
So blockierte die Türkei etwa vorübergehend die Nato-Mitgliedschaft Schwedens und Finnlands, um ihre eigenen Interessen durchzuboxen. In der Vergangenheit scheute er sich nicht davor, die EU mit Geflüchteten zu erpressen, die in seinem Land Schutz suchen.
Levin geht davon aus, dass Erdoğan auch weiterhin Druckmittel einsetzen wird, wenn er sie hat. "Das bedeutet, dass die Zusammenarbeit mit der Türkei möglicherweise ihren Preis hat", meint er.
Meister zufolge wird Erdoğan mit Europa sowohl um Sicherheit verhandeln, als auch um wirtschaftliche Fragen wie eine Aktualisierung des Freihandelsabkommens mit der EU. Aber es gebe gemeinsame Interessen. "Dieser transaktionale Ansatz ist normal in den internationalen Beziehungen und sollte nicht verhindern, mit der Türkei zu kooperieren", warnt er.
Auch Levin betont, Europa dürfe die Türkei nicht verprellen.
Trotz Diskrepanz: Europa braucht die Türkei und die Ukraine umso mehr
"Die europäischen Verbündeten der Türkei sollten darauf hinarbeiten, eine Annäherung an Trump und Putin zu verhindern, indem sie das Land in eine gemeinsame europäische Reaktion einbeziehen", rät Levin. Das bedeute aber nicht, dass die EU die Kriterien für einen möglichen Beitritt der Türkei über Bord werfen sollte.
Schließlich profitiert die Türkei von der Nato.
Laut Meister ist die Nato für die Türkei der zentrale sicherheitspolitische Partner und über das Bündnis ist das Land an bestimmte Technologien gekommen. Er sehe nicht, dass sich das Land auf absehbare Zeit aus der Nato zurückziehen wird. Die Türkei habe mit dem Krieg gegen die Ukraine ein größeres Interesse an Kooperation mit der Nato.
"Jedoch sehen wir auch, dass Erdoğan eine enge Beziehung zu Putin pflegt, ökonomische Vorteile aus der Umgehung westlicher Sanktionen zieht und deshalb stellt sich die Vertrauensfrage für die Ukraine", führt Meister aus.
Levin zufolge stimmen die nationalen Sicherheitsinteressen der Türkei nicht vollständig mit denen ihrer anderen europäischen Verbündeten überein. "Die Türkei will zwar keinen russischen Sieg, der Putin eine dominante Macht im Schwarzen Meer bescherte, aber sie will auch nicht, dass Russland besiegt und gedemütigt wird."
Sprich: Erdoğan verärgert Putin nur ungern und hat sich etwa den westlichen Sanktionen nicht angeschlossen. Dennoch ist die Türkei von Anfang an ein Unterstützer der Ukraine. "Sie hat eine Reihe von Waffensystemen in die Ukraine exportiert, gemeinsame Produktionsprojekte initiiert und baut derzeit ukrainische Kriegsschiffe", sagt Levin.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj steht zunehmend unter Druck. Seit der Auseinandersetzung mit US-Präsident Donald Trump und dessen Vize J. D. Vance im Weißen Haus verschärft sich der Eindruck, dass er sich nicht mehr auf die USA als einen der wichtigsten Unterstützer verlassen kann.