Nach der Vertrauensfrage von Olaf Scholz (SPD) ist vor der Bundestagswahl im Februar. Und das bedeutet vor allem eines: Der Wahlkampf läuft bereits auf Hochtouren. Das hat sich bei der Abstimmung am Montag im Bundestag sehr deutlich an den Reden von Scholz, Christian Lindner (FDP), Friedrich Merz (CDU) und Robert Habeck (Grüne) gezeigt.
Am Dienstag beschlossen CDU und CSU ihr Wahlprogramm für die Bundestagswahl bei Beratungen in Berlin. Das knapp 80 Seiten starke Programm der Union sei einstimmig verabschiedet worden, teilten Teilnehmende der Sitzung der Deutschen Presse-Agentur mit.
Unter anderem ist darin die Abschaffung des gerade erst in Kraft getretenen Selbstbestimmungsgesetzes (SBGG) vorgesehen: Ein Gesetz, für das queere Menschen lange kämpfen mussten. Außerdem will die Union ein Genderverbot in bestimmten Bereichen einführen.
Das sind Pläne, die sowohl LSVD+, der Verband für queere Vielfalt, als auch der Queerbeauftragte der Bundesregierung, Sven Lehmann, auf Anfrage von watson scharf kritisieren. Sie sehen eine Beschneidung der Rechte queerer Menschen in den Plänen der Union.
"Ich warne dringend davor, Wahlkampf auf dem Rücken von transgeschlechtlichen Menschen zu machen. Eine kleine Minderheit, die jeden Tag Diskriminierungen ausgesetzt ist, braucht Schutz und Unterstützung, keinen billigen Populismus", sagt der Queerbeauftragte.
Mit dem Selbstbestimmungsrecht "sollen für transgeschlechtliche Menschen die durch das Grundgesetz garantierten Rechten wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Achtung der Privatsphäre und die Nichtdiskriminierung sichergestellt werden."
Das SBGG ist erst seit 1. November 2024 in Kraft. Dadurch kann etwa die Anpassung des Vornamens und des Geschlechts durch eine Erklärung gegenüber dem Standesamt vorgenommen werden. Eine gerichtliche Entscheidung über die Antragstellung ist damit nicht mehr nötig.
Auch die Bürde der zwei benötigten Sachverständigengutachten entfällt – ein Vorgang, der von Betroffenen häufig als entwürdigend empfunden wurde. Jetzt reicht eine Selbstauskunft mit Eigenversicherung aus.
"Transgeschlechtliche Menschen haben Jahrzehnte auf dieses Gesetz gewartet. Ich bekomme jeden Tag unglaublich bewegende Nachrichten von transgeschlechtlichen Menschen, die sagen, dass sie sich zum ersten Mal wirklich anerkannt und gleichberechtigt fühlen", erklärt der Queerbeauftragte.
Er kritisiert die geplante Abschaffung des Selbstbestimmungsrechts im Unions-Wahlprogramm scharf: "Wenn es nach CDU und CSU geht, sollen transgeschlechtliche Menschen wieder in psychiatrische Gutachten gezwungen werden." Die Community blicke mit großer Sorge auf diese Ankündigung, "zumal Unionsabgeordnete vor kurzem bereits gefordert haben, transgeschlechtliche Frauen ausdrücklich aus dem Gewaltschutz auszuklammern".
Dass die Union das Selbstbestimmungsgesetz wieder abzuschaffen gedenkt, stößt auch beim LSVD+-Verband auf Unmut. Eine breite Mehrheit der Gesellschaft in Deutschland befürworte einen selbstbestimmten Umgang mit der eigenen geschlechtlichen Identität:
Weiter heißt es vom Verband: "Statt sich von Horrorszenarien treiben zu lassen, sollten die Unionsparteien auf reale Verbesserungen des SBGG hinwirken". Denn obwohl das Gesetz grundsätzlich einen rechtlichen Wandel herbeigeführt hat, gibt es demnach noch Lücken, etwa weil Menschen im laufenden Asylverfahren davon ausgeschlossen sind.
Laut des Queer-Beauftragten Sven Lehmann ignoriert die Union mit den Forderungen zudem bewusst, "dass sich alle wichtigen Frauenorganisationen wie der Deutsche Frauenrat, die Frauenhauskoordinierung und der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe für das Selbstbestimmungsgesetz ausgesprochen haben." Von dieser Solidarität mit transgeschlechtlichen Menschen könne sich die Union eine Scheibe abschneiden.
Das Argument der Union, dass der Schutz von Kindern und Jugendlichen hinter den Plänen stehe – wie etwa vom Kanzlerkandidaten Friedrich Merz geäußert – lässt er nicht gelten.
Auch der Kinderschutzbund unterstütze das Selbstbestimmungsgesetz ausdrücklich. Denn der Kinder- und Jugendschutz umfasst ihm zufolge auch die Anerkennung von transgeschlechtlichen Jugendlichen. "Zumal es ausreichend Vorkehrungen dafür gibt, dass Entscheidungen nicht leichtfertig, sondern nach reiflicher Überlegung getroffen werden, gerade auch bei minderjährigen Menschen", sagt Lehmann.
Auch das Gendern ist ein Thema, das die Gemüter derzeit erhitzt. Die Union plant diesbezüglich ein Verbot in bestimmten öffentlichen Einrichtungen: etwa an Schulen, Universitäten, im Rundfunk und der Verwaltung. All dies ist im Wahlprogramm zu finden unter der Überschrift "Deutsch ohne Beipackzettel und Bevormundung".
Für Sven Lehmann ist klar: "Das von CDU/CSU geforderte Verbot geschlechtergerechter Sprache für die Bundesverwaltung zeigt, wer hier die Sprachpolizei ist und anderen vorschreiben möchte, wie sie zu schreiben und zu sprechen haben."
Geschlechtliche Vielfalt sei eine gesellschaftliche Realität. Seit fast sechs Jahren gebe es neben Mann und Frau auch den Geschlechtseintrag divers für nicht-binäre Menschen, an dessen Beschluss auch die CDU/CSU-Fraktion beteiligt war. "Mir ist es wichtig, diese gesellschaftliche und rechtliche Realität auch sichtbar zu machen und anzuerkennen", sagt Lehmann.
Auch der LSDV+ verweist auf die Tatsache, dass nicht-binäre Menschen in der Gesellschaft existieren: "Geschlechtliche Vielfalt, jenseits der binären Geschlechter, ist auch in Deutschland Realität", heißt es vonseiten des Verbands.
Wenn Sprache es schaffe, Menschen aller Geschlechter anzusprechen und sichtbar zu machen, sei dies ein wichtiger Beitrag zu einem diskriminierungsfreieren Zusammenleben in Deutschland. "Sprachverbote, die nicht-binäre Menschen unsichtbar machen und ausgrenzen, seien diskriminierend. Sprachverbote spalten, inklusive Sprache verbindet", heißt es vom Verband.
Der Queer-Beauftragte fordert zudem, das ausdrückliche Verbot von Diskriminierung wegen der sexuellen Identität im Artikel 3 Absatz 3 im Grundgesetz zu ergänzen. Dadurch würden LGBTQIA+ explizit durch die Verfassung geschützt.
Denn das Grundgesetz in seiner jetzigen Form konnte schlimme Menschenrechtsverletzungen an LGBTQIA+-Personen in der Vergangenheit häufig nicht verhindern.
Eine Anpassung sei besonders "angesichts des gesellschaftlichen Rechtsrucks und dem Ziel insbesondere rechtsextremer Akteure, rechtliche Verbesserungen wieder aufzuheben" dringend notwendig.