Russland wählt drei Tage lang, der Sieger steht schon fest: Wladimir Putin. Eine russische Journalistin ordnet die "Wahlen" für watson in einem Gastbeitrag ein. Bild: imago images / Sergei Bobylev
Gastbeitrag
15.03.2024, 19:3415.03.2024, 19:35
Ekaterina Glikman
Vom 15. bis 17. März finden in der Russischen Föderation "Präsidentschaftswahlen" statt. In meinem Gastbeitrag wird es viele Anführungszeichen geben, denn ich weigere mich, das, was jetzt in Russland passieren wird, eine Wahl zu nennen.
Das Ergebnis dieser "Wahl" ist jedem im Voraus bekannt. Wir wissen sogar, dass der russische Präsident Wladimir Putin 80 Prozent Zustimmung erhalten wird – sein Pressesprecher hat uns das freundlicherweise schon vor sechs Monaten mitgeteilt.
Die russische Journalistin Ekaterina Glikman teilt ihren Blick auf die Wahlen in Russland.Bild: bild / Daniel Thueler
Von außen sehen die Wahlen recht "demokratisch" aus: Neben Putin stehen drei weitere Namen "alternativer" Kandidaten auf dem Stimmzettel (ich hatte gewarnt, dass ich viele Anführungszeichen verwenden werde). Doch es gibt keinen Unterschied zwischen den Wahlen 2024 und den Wahlen in der Sowjetunion, als nur ein einziger Kandidat auf dem Wahlzettel stand.
Zur Person
Ekaterina Glikman arbeitete 20 Jahre lang als Journalistin für die "Nowaja Gaseta" – Russlands wichtigste unabhängige Zeitung. 2019 zog die Russin der Liebe wegen in die Schweiz, von dort aus arbeitete sie als Korrespondentin. Dann kam der Krieg in der Ukraine. Die Kreml-kritische "Nowaja Gaseta" musste 2022 ihren Betrieb einstellen und ein Teil ihrer Journalist:innen floh aus dem Land. Sie gründeten das Exilmedium
"Nowaja Gaseta Europe", wo Glikman heute als stellvertretende Chefredakteurin tätig ist.
Die derzeitigen "alternativen" Präsidentschaftskandidaten unterstützen alle einheitlich die Politik Putins, insbesondere seinen aggressiven Angriffskrieg in der Ukraine, und schwören ihm ihre Loyalität.
Um bei Russlands Präsidentschaftswahl antreten zu können, hat Wladimir Putin eigens die Verfassung geändert.Bild: imago images / Artem Priakhin
Putins Gegner werden entweder inhaftiert, getötet oder wandern aus. Unabhängige Kandidaten sind nicht zu den Wahlen zugelassen. Ekaterina Duntsova, eine Friedensaktivistin, wollte für das Präsidentenamt kandidieren – das wurde ihr verwehrt. Boris Nadeschdin, der einzige Anti-Kriegs-Kandidat, wurde zwar registriert, durfte aber nicht antreten. Und Putin ließ bereits vor 18 Jahren das Kästchen "gegen alle" vom Wahlzettel entfernen.
Bei dieser Ausgangslage scheint es, als ob Menschen, die gegen den Krieg sind und Putin für einen Verbrecher halten, bei diesen "Wahlen" keine Möglichkeit haben, ihre Meinung und ihren Standpunkt zu äußern. Doch offizielle Umfragen zeigen: Etwa 20 Prozent der Bevölkerung unterstützen den Krieg nicht. Oder die "spezielle Militäroperation", wenn wir die in Russland erlaubte Sprache verwenden. Das Wort "Krieg" ist nach wie vor verboten. Inoffiziellen Daten zufolge gibt es noch viel mehr solcher Menschen, die sich gegen den Krieg stellen. Aber es ist einfach unmöglich, in einer totalitären Gesellschaft unabhängige, verlässliche soziologische Untersuchungen durchzuführen.
Die russische Journalistin Ekaterina Glikman arbeitet heute in der Schweiz.
Putin erstickt Proteste in Russland im Keim – auch mit Gewalt
Diesen Menschen ist es verboten, auf die Straße zu gehen und zu protestieren, und wenn sie es doch tun, werden sie verprügelt und verhaftet. Es ist gefährlich für sie, sich auf Social Media gegen den Krieg auszusprechen – sie müssen dafür mit Geld- oder sogar Haftstrafen rechnen.
Für einen Außenstehenden mag es den Anschein haben, dass die Russen Putins Politik voll und ganz gutheißen, weil sie nicht protestieren, aber das ist nicht der Fall. In einem repressiven Land wie Russland nimmt der Protest andere, weniger offene Züge an.
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Im ganzen Land bildeten sich etwa Schlangen, um für den Anti-Kriegs-Kandidaten Boris Nadeschdin zu unterschreiben, was ebenfalls zum Protest diente. Bei anderen kriegsbefürwortenden Kandidaten gab es solch einen Anlauf nicht. Und auch am 1. März sah man wieder lange Schlangen von Menschen, die sich von Alexej Nawalny verabschiedeten – auch das war ein Protest. Aber selbst diese in demokratischen Ländern völlig normalen und harmlosen Aktionen sind im modernen Russland riskant.
So verfolgten russische Behörden die Menschen, die freiwillig Unterschriften zugunsten von Nadeschdin sammelten. Auch wurden mindestens 581 Personen während der Gedenkveranstaltungen (beim Niederlegen von Blumen) und der Beerdigung von Nawalny festgenommen. Im Nachhinein drohen weitere Verhaftungen: Bei der Beerdigung wurden Kameras mit Gesichtserkennung installiert, mit der die teilnehmenden Personen identifiziert werden können.
Aber ganz gleich, wie viel Angst die Menschen haben: Ich bin mir sicher, dass viele von denen, die Putin nicht unterstützen, trotzdem in die Wahllokale gehen werden. Der Grund: Ironischerweise könnten die alternativlosen "Wahlen" in Russland ebenfalls zu einer Plattform für den Protest werden – ganz legal und sicher.
Russland-Wahl: Opposition ruft zur Aktion "Mittag gegen Putin" auf
Anfangs gab es in der russischen Opposition viele Debatten darüber, ob man überhaupt an den "Wahlen" teilnehmen oder sie ignorieren sollte. Nach der Ermordung von Nawalny (wir, die Journalisten von Novaja Gaseta Europe, nennen es Mord – nicht Tod) sind diese Debatten fast verstummt.
Alexej Nawalny, einer der prominentesten Kreml-Kritiker verstarb im Februar in russischer Haft.Bild: AP
Die meisten unabhängigen Politiker und Politologen empfehlen, sich der Aktion "Mittag gegen Putin" anzuschließen. Dazu sollen Menschen Russlands am 17. März um 12 Uhr Ortszeit in die Wahllokale kommen. Tatsache ist, dass der Aufruf zur Unterstützung von "Mittag gegen Putin" zu Nawalnys letztem politischen Statement hinter Gittern wurde. Es ist quasi sein politisch letzter Wille.
Ist die Aktion sicher? Es mag paradox klingen, aber zu den "Wahlen" in Russland zu gehen, ist definitiv sicherer als Blumen zum Gedenken an Nawalny niederzulegen. Die Behörden sind an einer hohen Wahlbeteiligung interessiert. Denn in totalitären Staaten wollen die Menschen anscheinend ungern hingehen, sie sehen keinen Sinn im Wählen. Daher wird Druck auf sie ausgeübt. Staatsbedienstete, die von den Behörden abhängig sind, werden dann schon mal mit Bussen zu den Wahllokalen gebracht.
Von der Regierung abhängige Wählende wie Militärangehörige erhalten Druck, wählen zu gehen.Bild: imago images / Yegor Aleyev
Was kann "Mittag gegen Putin" den Protestwählern geben? Erstens: Sich gegenseitig zu sehen und zu erkennen, dass sie viele sind. Zweitens: Für einen der "alternativen" Kandidaten zu stimmen oder den Wahlzettel zu beschädigen, also ungültig zu machen. Jede dieser Aktionen verringert die Stimmenzahl für Putin, was aber nichts am offiziellen Ergebnis ändert – jeder in Russland ist an Wahlbetrug gewöhnt.
Man kann jetzt sagen, dass die Aktion sinnlos sei. Ist sie aber nicht, wenn man bedenkt, dass dies die einzige Möglichkeit für die Russen ist, ein Mitspracherecht zu haben. Schließlich werden die "vertrauenswürdigen Personen", die die Stimmen zählen und die Ergebnisse fälschen, sehen, dass es viele Protestwähler gibt.
Mal sehen, was am 17. März mittags passiert. Ich persönlich werde zu dieser Zeit zum Wahllokal in der russischen Botschaft gehen. Und mein Bauchgefühl sagt mir, dass es dort eine sehr lange Schlange geben wird.
Transparenzhinweis
Der Gastbeitrag wurde aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt.