Wie fürchterlich Krieg ist – das können nur jene verstehen, die selbst unter den Umständen, den Angriffen, den Kämpfen leiden. Die Opfer, die der Krieg in der Ukraine fordert – sie wiegen schwer.
Wenn ukrainische Soldat:innen von ihren Einsätzen an der Front berichten, dann geben sie schon oft erschreckende Einblicke. Sie berichten von Granat-Einschlägen, von Mörsern, von Verletzungen, von Toten.
Von russischer Seite hört und liest man hingegen fast nichts über die Zustände.
Doch neben den vielen Unterschieden, die ukrainische und russische Soldat:innen voneinander trennen, gibt es einen ganz gravierenden Gegensatz: Die Ukrainer:innen werden von ihrem Land, ihrer Regierung geschätzt – die Russen gelten hingegen als Mittel zum Zweck.
Einen Beweis für diese Tatsache lieferten jetzt zwei Gespräche, die der US-amerikanische Nachrichtensender CNN mit russischen Bürger:innen führen konnte.
Es sind Geschichten, die stellvertretend für den elenden und erschöpfenden Verlust von Leben in den russischen Schützengräben stehen. Geschichten, die zeigen, wie wenig das Leben eines Soldaten wert ist – zumindest für die russische Führung. Denn: Die meisten Toten waren Gefangene, denen eine Haftverschonung versprochen wurde, wenn sie sich den sogenannten Sturm-Z-Bataillonen des russischen Verteidigungsministeriums anschließen.
Freiheit oder Tod – ein Deal, der von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.
Es ist schon häufiger vorgekommen, dass russische Soldaten westlichen Medien von ihren Erfahrungen berichteten. Doch, wie CNN schreibt, handelte es sich dabei um Kriegsgefangene. CNN sei es allerdings gelungen, mit Menschen zu sprechen, die nicht von ukrainischen Behörden vermittelt wurden.
Warum ist es wichtig, das zu betonen? Ganz einfach: Es zeigt, dass auch unabhängig von ukrainischem Einfluss die menschenverachtende Politik Russlands bewiesen werden kann.
CNN sprach eigenen Angaben zufolge mit der Mutter eines 23-jährigen Strafgefangenen. Der junge Mann wurde wegen Drogendelikten zu neuneinhalb Jahren Haft verurteilt. Bis er rekrutiert wurde. Er wollte frei sein. Das Versprechen: Schaffst du es, sechs Monate lang zu überleben, bist du frei.
Doch aus sechs Monaten wurden traurige drei Wochen.
Laut CNN stellte die Mutter umfangreiches Videomaterial, Dokumente und Chatnachrichten zur Verfügung, um die Geschichte ihres Sohnes Andrej zu bestätigen. Den Namen hat CNN aus Sicherheitsgründen geändert.
Die Mutter, CNN nennt sie Yulia, zeigte dem Sender ein Video von ihrem Sohn auf einem Trainingsgelände in der besetzten Ukraine, wo er auf die Schnelle Angriffstaktiken lernte. Sein schlecht rasiertes Gesicht sei darauf zu erkennen: sonnenverbrannt, unter einem großen Tarnhelm, auf dem Rücksitz eines Armeelasters.
Am 8. Mai teilte Andrej dann seiner Mutter mit, dass seine Einheit an die Front geschickt worden sei – und das in einem der am heftigsten umkämpften Teile des östlichen Schlachtfelds. Im Morgengrauen des 9. Mai sollten sie starten – mit einem Angriff auf die ukrainischen Stellungen. Der 9. Mai – das war jener Tag, an dem Putin den Jahrestag des Sieges der Sowjetunion über Deutschland in Moskau feierte.
"Wir haben uns gestritten", zitiert CNN Mutter Yulia. Unter Tränen habe sie davon berichtet:
Dann verschwand er für immer.
Keine Leiche, kein Abschied. Einfach weg.
Erst Wochen danach soll Yulia von den Angehörigen der anderen Gefangenen erfahren haben, dass bei diesem bestimmten Angriff bis zu 60 Soldaten ums Leben gekommen waren – bestätigen lässt sich diese Zahl nicht.
"Das Schlimmste war, dass ich Angst hatte, er würde jemanden umbringen", soll Yulia gesagt haben. "So lächerlich es klingt, ich hatte Angst, dass er das alles durchmachen und als Mörder zu mir zurückkommen würde."
Ein weiteres Gespräch, das CNN führte, zeigt, wie barbarisch mit den eigenen Soldaten umgegangen wird.
Der ehemalige Soldat Sergej – auch seinen Namen änderte CNN – berichtete davon, dass das Essen hauptsächlich aus Fleischkonserven mit Instantnudeln bestand, dass sie aber für Wasser drei bis vier Kilometer laufen mussten. Dass sie teilweise Schnee schmelzen mussten, um überhaupt etwas trinken zu können. "Manchmal haben wir mehrere Tage lang nichts gegessen und nichts getrunken", erzählt er dem Nachrichtensender.
Er berichtet von Hinrichtungen, die auch vor seinen Augen stattfanden, er berichtet von Plünderungen auf der eigenen Seite. Denn den Soldaten fehlte es schließlich an allem.
Heute lebt Sergej wieder in Russland und versucht sich und seine Familie mit zwei Jobs über Wasser zu halten. Auf eine Entschädigung vom Militär für seine zahlreichen Verletzungen wartet er bis heute.
Acht Monate habe er an der Front gedient, erzählt er CNN. Acht Monate – neun Gehirnerschütterungen, zwei Schussverletzungen. Im Winter wurde ihm ins Bein geschossen. Zehn Tage sei er behandelt worden. Und dann: zurück an die Front.
Er wurde erneut angeschossen – diesmal in die Schulter, und er musste ins Krankenhaus. Der Aufenthalt dort dauerte ganze zwei Monate, bis er wieder in die Hölle geschickt wurde. Wegen Personalmangels, wie er CNN erzählt. Dort sah er, dass selbst Soldaten mit amputierten Gliedmaßen weiter für das Militär arbeiten mussten. An der direkten Kontaktlinie brachten sie zwar nichts. Doch als Funker konnten sie den Kämpfern noch immer nutzen.
Kugelsichere Westen hatten sie keine mehr. Laut Sergej wurden sie ausrangiert, weil sie kaum Schutz boten. "Sie helfen nicht gegen Granaten, da ihre [ukrainische] Artillerie mit hoher Genauigkeit zuschlägt", zitiert ihn CNN. "Unsere Artillerie kann drei- oder viermal feuern, und wenn Gott will, explodiert etwas. Es ist krumm und meistens trifft es uns zuerst."
Sergej berichtet von eklatant hohen Opferzahlen. Allein von seiner Einheit seien im Oktober 600 Gefangene rekrutiert worden – nur 170 hätten überlebt und alle bis auf zwei seien verwundet. "Jeder wurde verletzt, zwei-, drei-, manche viermal", sagte er im CNN-Gespräch.
Dann berichtete er, wie er Kollegen sah, die durch Granaten-Einschläge in Stücke gerissen wurden – und wie er sich wunderte, dass er überlebt hatte. Ein Angriff war besonders eindringlich. Nicht bloß, weil Sergej erneut verletzt wurde. Er zeigt, wie skrupellos mit dem Leben der eigenen Männer gespielt wird. Sergej erzählt:
Dieser Einsatz war sein letzter an der direkten Frontlinie. Eine Granate schlug neben ihm ein – Gehirnerschütterung Nummer neun. Er habe fünf Stunden lang nichts gesehen, nur einen weißen Schleier vor den Augen.
Dann fand er Ärzte, die ihm nach seiner kurzen Behandlung einen Job als Krankenhauspfleger gaben: Leichentransport, Überprüfung der Leichen auf Identifikationspapiere, Reinigung.
Bis der letzte Monat seines Vertrags abgelaufen war.