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Ukraine: Antikorruptionsaktivist unter Druck – Kritik an Selenskyj

24.06.2025, Niederlande, Den Haag: Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, trifft vor einem offiziellen Abendessen im Paleis Huis ten Bosch im Vorfeld des NATO-Gipfels ein. Foto: Ansgar Haase/dpa  ...
Präsident Wolodymyr Selenskyj steht wegen eines Ermittlungsverfahrens gegen einen prominenten Antikorruptionsaktivisten in der Kritik.Bild: dpa / Ansgar Haase
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Antikorruptions-Ikone in der Ukraine unter Druck: Kritik an Selenskyj

Die Ukraine kämpft an zwei Fronten: gegen Russland und um den Erhalt ihrer demokratischen Grundsätze. Jetzt steht der bekannteste Antikorruptionsaktivist des Landes im Visier der Justiz. Es hagelt schwere Vorwürfe gegen Selenskyj.
15.07.2025, 12:4015.07.2025, 12:40
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Krieg ist ein Ausnahmezustand. Dass innenpolitische Prozesse dabei komplizierter werden, ist unvermeidlich. Das zeigt sich auch in der Ukraine, etwa durch verschobene Wahlen. Schritte wie diese sind im Kriegszustand üblich, denn wie sollen freie Wahlen stattfinden, wenn Soldat:innen an der Front sind und ein Land ums Überleben kämpft?

Dennoch: Während Russland weiter ukrainische Städte bombardiert, wächst zugleich die Sorge um den Zustand der inneren Demokratie. Ein aufsehenerregender Leitartikel der ukrainischen "Kyiv Independent" richtet sich jetzt direkt an Präsident Wolodymyr Selenskyj – und warnt vor einem autoritären Abdriften.

Anlass ist ein Ermittlungsverfahren gegen den bekanntesten Antikorruptionsaktivisten des Landes. Es steht sinnbildlich für eine tiefere Krise im Inneren.

Verfahren gegen Shabunin: Offiziell geht es um Wehrdienst

Shabunin ist Mitgründer des Anti-Corruption Action Centers, einer der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Organisationen des Landes. Gegen ihn wird wegen angeblicher Wehrdienstverweigerung ermittelt. Laut "Kyiv Independent" hatte sich Shabunin jedoch "in den ersten Tagen der Invasion freiwillig zum Militär gemeldet".

KYIV REGION, UKRAINE - JULY 23, 2020 - Chair of the Board, co-founder of the Anti-Corruption Action Centre AntAC Vitaliy Shabunin shows journalists around his fire-stricken house, Kyiv, capital of Ukr ...
Vitalii Shabunin ist einer der bekanntesten Antikorruptionsaktivisten der Ukraine. Bild: imago images / Evgen Kotenko

Während seines Dienstes habe er seine Antikorruptionsarbeit fortgeführt. Vergangene Woche durchsuchten Ermittler seine Wohnung in Kiew und sogar seine Einheit an der Front. "Das Hauptinteresse der Ermittler? Das Telefon des Aktivisten." Die Redaktion vermutet politische Motivation: "Alles an diesem Fall deutet darauf hin, dass es darum geht, einen Feind zu verfolgen – nicht darum, Gerechtigkeit walten zu lassen."

Offizielle Stellen der ukrainischen Regierung betonen hingegen, bei allen Ermittlungen werde das Recht konsequent angewendet und politische Motive wiesen sie zurück. Sie verweisen darauf, dass Sicherheitsaspekte im Vordergrund stünden und das Verfahren ergebnisoffen geführt werden.

Antikorruptions-Ikone Shabunin: Vom Partner zum Kritiker

Shabunin zählt seit Jahren zu den lautstärksten Stimmen in der ukrainischen Zivilgesellschaft. Er und seine Organisation haben sich für den Aufbau unabhängiger Antikorruptionsbehörden und für Reformen im Justizapparat eingesetzt.

Auch Präsident Selenskyj war sich dessen bewusst: 2019, als er für das Präsidentenamt kandidierte, traf sich Selenskyj öffentlich mit Shabunin. Dabei sprach er über die Notwendigkeit, Korruption zu beseitigen. Diese Allianz sei jedoch schnell zerbrochen, heißt es im Artikel.

Heute ist Shabunin ein scharfer Kritiker. Besonders im Visier: Selenskyjs Stabschef Andrij Jermak und dessen umstrittener Stellvertreter Oleh Tatarov. Zuletzt warf er dem Verteidigungsministerium Missmanagement bei der Waffenbeschaffung vor.

Hierzu heißt es in dem Artikel: "Macht eine kritische Haltung gegenüber staatlicher Ineffizienz und Korruption jemanden zum Staatsfeind? Nur in einem Fall – wenn das Führungspersonal sein eigenes Überleben und seinen Komfort über die Interessen des Landes stellt."

Machtkonzentration in der Ukraine? Kritik an Selenskyj

Die Redaktion sieht ein Muster: So habe die Regierung kürzlich einen bereits ausgewählten Leiter der Behörde zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität abgelehnt. Offenbar, um "einen genehmeren Kandidaten" zu installieren.

Laut "Kyiv Independent" wird der Nationale Sicherheitsrat zunehmend genutzt, um politische Gegner:innen per Sanktion zu treffen, etwa Ex-Präsident Petro Poroschenko. "So umstritten Poroschenkos Handlungen auch sein mögen – er sollte sich vor echter Justiz verantworten müssen, nicht vor willkürlichen Sanktionen."

Das Anti-Corruption Action Center (ACAC) war seit 2019 in hunderten Fällen mutmaßlicher Korruption im Staatsapparat aktiv und brachte mehrere hochrangige Funktionäre vor Gericht. Gleichzeitig berichten internationale Organisationen wie Transparency International, dass sich das Arbeitsumfeld für NGOs und unabhängige Medien tendenziell verschärft hat.

Die "Kyiv Independent"-Redaktion fordert Rechenschaft, auch von westlichen Partnern: "Die G7-Botschaften in der Ukraine haben zu Shabunin geschwiegen." Stattdessen brauche es klare Worte gegen Machtmissbrauch. Der Krieg dürfe kein Vorwand sein, "um die ukrainische Demokratie zu untergraben – oder um Machtmissbrauch nicht zu benennen".

Tatsächlich äußerten sich westliche Regierungen zuletzt zurückhaltend zu innenpolitischen Vorgängen in der Ukraine. Während sich etwa die US-Botschaft eher diplomatisch zum Fall Shabunin äußerte, war die EU-Kommission etwas deutlicher und verwies auf die zentrale Rolle von Rechtsstaatlichkeit und einer unabhängigen Zivilgesellschaft für die Beitrittsperspektive der Ukraine.

Ukraine-Krieg: Demokratische Werte sind kein Luxus des Friedens

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass ähnliche Spannungsfelder auch in anderen Ländern in Zeiten des Krieges bestanden: So setzte beispielsweise Israel nach dem Sechstagekrieg 1967 Teile demokratischer Mechanismen zeitweise aus.

Anschließend war die Rückkehr zu regulären Verfahren jedoch Teil des angestrebten Neustarts. Solche Vergleiche machen deutlich, wie zentral der Erhalt von Grundrechten auch im Ausnahmezustand bleibt.

Die Autor:innen machen deutlich, dass der Kampf gegen Russland auch ein Kampf für demokratische Werte sei. Diese dürften nicht untergraben werden, weder durch politische Einflussnahme noch durch selektive Justiz. Die Verteidigung gegen äußere Bedrohungen dürfe nicht zum Vorwand werden, um rechtsstaatliche Prinzipien im Innern aufzuweichen.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSCE) betont die Notwendigkeit von Rechenschaftspflicht als Schlüssel zum dauerhaften Frieden in der Ukraine. Dies gelte auch und gerade im Ausnahmezustand.

Mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen der Ukraine bleibt festzuhalten: Demokratische Institutionen, politische Transparenz und rechtsstaatliche Verfahren sind gerade im Krieg keine Luxusgüter. Sie sind Prüfsteine gesellschaftlicher Resilienz und entscheidend für das Vertrauen in die Zukunft.

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