Politik
Interview

Wehrpflicht-Debatte: Experte kritisiert Bundeswehr und CDU-Vorschlag

Symbolbild zum Thema Frauen in den Streitkraeften. Aufgenommen im Rahmen eines Empfangs im Bundesministerium der Verteidigung in Berlin, 28.10.2024. Berlin Deutschland *** Symbolic image on the topic  ...
Die Union fordert, eine Wehrpflicht noch in diesem Jahr wiedereinzuführen. Bild: imago images/ photothek
Interview

Wehrpflicht: Militärexperte warnt vor Aktionismus der CDU

Russlands Imperialismus gefährdet die europäische Sicherheit, gleichzeitig wollen die USA nicht mehr Schutzmacht der freien Welt sein. Wird es also Zeit für eine neue Wehrpflicht?
30.03.2025, 15:08
Mehr «Politik»

Seitdem die Wehrpflicht im Jahr 2011 ausgesetzt wurde, hat sich die weltpolitische Lage drastisch gedreht. Deutschland möchte wieder wehrhaft werden. Dafür wird auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutiert.

Aber ist das so einfach möglich? Und überhaupt sinnvoll? Das erklärt Oberst a. D. Ralph Thiele im Interview mit watson. Er ist Vorsitzender der Politisch-Militärischen Gesellschaft und ehemaliger Direktor an der Führungsakademie der Bundeswehr.

Watson: Herr Thiele, die Union möchte die Wehrpflicht noch in diesem Jahr wieder einführen. Ist das klug?

Ralph Thiele: Wir brauchen viel mehr Soldaten als wir aktuell haben. Wenn es irgendwo brennt, muss Nachschub her. Aber die entscheidende Frage ist, wie macht man das?

Was denken Sie?

Der Gedanke von Verteidigungsminister Boris Pistorius, zunächst einmal Leute zu erfassen, ist ein sehr guter.

Pistorius schwebt das schwedische Modell vor: Junge Männer und Frauen werden registriert, bewertet und ein Teil von ihnen wird zum Militärdienst eingezogen, basierend auf Eignung und Bedarf. Wer nicht ausgewählt wird, kann freiwillig dienen.

Damit weiß man, wen man anschreiben muss, wer will und wer kann. Danach müsste man stufenweise aufstocken. Aktuell fehlen 20.000 Soldaten in der Bundeswehr. Aber mit Blick auf die Bedrohungen ist das natürlich nichts. Wenn man darüber hinausgehen möchte, müsste erstmal eine geeignete Organisation entstehen, die sich um die Ausbildung kümmert. Diese Art von Flexibilität finden wir aber generell nicht in der Bundeswehr.

Also reicht das Modell nicht aus?

Ich glaube, das ist als Start gut, aber ich würde für das finnische Modell plädieren. Wenn es die sicherheitspolitische Lage erfordert, braucht es eine Herangehensweise, die auch die nötige Menge generiert.

Wie sieht das finnische Modell aus?

Das finnische Modell hat im Prinzip alle Bürger als Beteiligte. Dort werden die meisten nach der Grundausbildung Reservisten, die im Ernstfall schnell mobilisiert werden können.

Junge Menschen halten erwartbar wenig von einer Wehrpflicht. Ist das nicht kontraproduktiv für die Bundeswehr?

Es mag einen vielleicht am Anfang abschrecken, aber sobald man da ist, erweitert es den Horizont. Man lernt neue Freunde kennen. Man lernt, mit Menschen ganz anderen Zuschnitts umzugehen. Die Bundeswehr ist auch sehr vielschichtig und spannend, man kann sich da in diversen Bereich verorten.

Die Wehrbeauftragte Eva Högl hat das Ziel festgeschrieben, bis 2031 203.000 Soldat:innen zu haben. Sind das genug?

Dafür muss man sich anschauen, wie Krieg geführt wird. Drohnen spielen eine zentrale Rolle in der Ukraine, sind aber kaum im Bestand der Bundeswehr. Bei den Reservisten werden häufig Infanteristen gesucht, also Menschen, die mit dem Gewehr umgehen und einfache Tätigkeiten ausführen können. Für die Technik braucht es aber ganz andere Menschen. Dafür haben wir noch gar kein Konzept. Unter dem Strich wird ein Land wie Deutschland 300.000 bis 400.000 Soldaten brauchen. Aber: Maß halten am Anfang! Wenn wir die Wehrpflicht heute in der alten Form einführen, machen wir die Bundeswehr schwächer als sie ohnehin schon ist.

Ralph Thiele ist ehemaliger Oberst der Bundeswehr.
Ralph Thiele ist ehemaliger Oberst der Bundeswehr.bild: privat/ ralph thiele

Das Heer hat aktuell nur 60 Prozent des nötigen Logistik- und IT-Personals. Und das Institut für Wirtschaftsforschung hat kürzlich errechnet, dass höhere Wehrdienst-Gehälter günstiger wären als die Wehrpflicht. Ist es nicht zielführender, die Bundeswehr als attraktiven Arbeitgeber zu stärken?

Die Wehrpflicht ist nur ein Teil der Lösung. Aber es kommt keiner, wenn die Arbeitsbedingungen nicht stimmen. Wenn jemand aus der IT das beste Gerät zum Arbeiten bekommt, guckt er aber auch vielleicht weniger auf das Gehalt. Das gilt auch für abenteuerlustige Menschen, die mal was erleben wollen. Aber knapp 110.000 Soldaten sind Zeitsoldaten, von denen viele bleiben möchten. Bislang fehlte dafür das nötige Geld.

Mehr als jeder Vierte, der derzeit zur Bundeswehr kommt, geht innerhalb weniger Wochen wieder. Woran liegt das?

Die Lebenswirklichkeit in den Stuben und den Büros liegt unter dem technologischen Standard mancher Kinderzimmer. Das Problem ist: Die Versprechen der Werbevideos für die Bundeswehr und die Einsatzwirklichkeit passen nicht zusammen. Und die Ausbildung ist auch körperlich und geistig belastend, viele junge Menschen wollen sich nicht mehr so stressen lassen. Wichtig ist aber auch, dass man mit der Bevölkerung in einen Dialog treten muss, warum der Dienst in der Bundeswehr überhaupt nötig ist.

Die Bundeswehr hat auch deshalb ein Imageproblem, weil es immer wieder Fälle von Rechtsextremismus gibt.

Rechtsextremismus sehe ich nicht als das große Problem. Das ist nicht der Durchschnitt der Bundeswehr, sondern Einzelfälle werden medial aufgebauscht. Grundsätzlich sehe ich mittlerweile schon, dass es Verständnis für eine funktionstüchtige Bundeswehr gibt. Die Menschen in Deutschland müssen erfahren, dass man sich auf die Streitkräfte verlassen kann. Denken Sie an das Hochwasser im Ahrtal und die große Zuverlässigkeit und Leistungsbereitschaft der dort eingesetzten Soldaten. Aber Ausrüstung, Material, Unterkunft – das muss alles da sein. Sonst wird das nichts mit der Wehrpflicht.

Material- und Munitionsbeschaffung scheitern an aufwendigen bürokratischen Abläufen. Kann eine Wehrpflicht überhaupt eingeführt werden, bevor diese Hürden abgebaut worden sind?

Man könnte die 20.000 fehlenden Soldaten nach dem Vorschlag von Pistorius erfassen und so schnell wie möglich ausbilden. Zeitgleich muss man mittel- und langfristig planen. Durch einen klugen Ansatz könnte man das gestaffelt angehen.

Für die 20.000 fehlenden Soldaten wären die Kapazitäten zur Ausbildung da?

Ja. In der Planung der Bundeswehr sind sie bereitgestellt. Die Frage ist aber, wie man die Trendumkehr hinbekommt, dass diese 20.000, die bis jetzt nicht gekommen oder schnell weggelaufen sind, dauerhaft bleiben.

Wie kann das gelingen?

Die jungen Menschen, bis 30, 35, müssen – salopp gesagt – Herausforderungen, Abenteuer und Erlebnisse geboten bekommen, in denen sie die handwerklichen Fähigkeiten beigebracht bekommen. Und danach muss es eine Wechselwirkung mit den zivilen Berufen geben. Die Menschen mit einer Affinität zu modernen Technologien wie Kommunikation, IT, KI und Drohnen müssen diese in die Bundeswehr mitbringen können.

Das müssen Sie erklären.

In den israelischen Streitkräften ist nur ein Fünftel Zeit- und Berufssoldat. Vier Fünftel kommen aus dem Berufsleben und springen im Falle eines Angriffs auf Israel gegebenenfalls aus dem Stand in den Einsatz. Sie bringen ihre beruflichen Erfahrungsgewinne permanent in ihren Dienst in den Streitkräften ein. Sie üben regelmäßig und es gibt Vereinbarungen mit ihren Arbeitgebern, wie sich dies möglichst reibungslos gewährleisten lässt. Ein solcher Wehrdienst nimmt alle ganz konstruktiv mit.

Wie sieht der Verlauf eines Wehrdiensts aus?

Die ersten drei Monate sind Grundausbildung. Marschieren, Umgang mit der Waffe, Erste Hilfe. Danach gibt es eine Spezialisierung. Beispielsweise: LKW-Führerschein, wie schütze ich mich und meine Einheit gegen Drohnen? Oder wie beherrsche ich die Wartung von Fahrzeugen?

Betrifft das auch Frauen?

Ich komme gerade aus Israel, da habe ich mehr Frauen als Männer gesehen. In der Bundeswehr sind Frauen bereits in allen möglichen Bereichen eingesetzt, daher halte ich es für aus der Zeit gefallen, dass eine Wehrpflicht nur Männer berücksichtigen müsste.

Und wie lange sollte der Wehrdienst dauern?

Das Bundesverfassungsgericht hat richtigerweise geurteilt, dass man es sehr genau begründen muss, wenn man jungen Menschen Lebenszeit wegnimmt. Ein halbes Jahr braucht es auf jeden Fall, allein für Grundausbildung und einige Fachkenntnisse. Vernünftig wäre ein Jahr, vielleicht einigt man sich in der Mitte.

Russland verschleppt ihren Mann: "Ich konnte kaum atmen"
Die Ukrainerin Liusiena Zinovkina verlor durch den russischen Großangriff ihre Heimat und ihren Mann. Seit fast zwei Jahren hält Russland ihn unrechtmäßig in Gewahrsam. Verschleppt, verteufelt, verurteilt, weil er Ukrainer ist.

Ihre Finger zittern, als sie ein Video auf ihrem Handy abspielt. Auf dem Display erscheint ein junger Mann mit kurzgeschorenen Haaren. Er sitzt hinter Gittern, mit blassem Gesicht, aber kämpferischem Blick. Neben ihm sitzt ein älterer Herr, der ihn auf Russisch verhört.

Zur Story