Wie tief haben sich Neonazis in unserer Gesellschaft eingegraben? Seitdem in Chemnitz ein ganzes Stadion einem verstorbenen Rechtsextremisten huldigte, stellt sich einmal mehr das ganze Land diese Frage.
Dabei gibt es seit Jahren jene Recherche-Gruppen, die der rechtesextremen Szene so nah kommen, wie sonst kaum einer. Auch die Rechercheure von "Allgäu Rechtsaußen" gehören dazu. In einem neuen Report, den sie Ende des Monats veröffentlichen werden, beschreiben sie, wie sich das Neonazi-Milieu im Süden Deutschlands längst zu einem gut funktionierendem Netzwerk aufgestellt hat. Im Kern steht die Gruppe "Voice of Anger" (VoA), die im Allgäu ein Hub für die Szene gebildet hat.
Wir haben mit Sebastian Lipp gesprochen, der den Nazis hinterherspürt. Er glaubt, die Grenze zwischen Bürgern und Rechtsextremen ist dünner als gedacht.
watson: In eurem neuen Report erläutert ihr ein deutschlandweites "militantes Untergrundnetzwerk" mit Basis im Allgäu. Das klingt, als wolltet ihr eine lokale Neonazi-Szene möglichst bedrohlich wirken lassen? Sebastian Lipp: Wir meinen damit, dass die Szene im Allgäu Teil eines größeren Netzwerks ist. Es gibt gute Verbindungen und personelle Überschneidungen zu deutschlandweiten Neonazi-Gruppen wie "Blood and Honor" oder den "Hammerskins". Es handelt sich um genau jene Kreise, in denen auch der NSU groß wurde. Dort gibt es noch immer viele militante Nazis, die im Untergrund arbeiten, und von denen reden wir.
Woran macht ihr diese Strukturen fest? Wir stellen bei unseren Recherchen immer wieder fest, dass die Szene sich vor allem über Konzerte organisiert. Teils internationale rechtsextreme Bands spielen dann auf Grundstücken, die VoA-Mitglieder angekauft haben. Dort netzwerken altbekannte Nazis aus der gesamtdeutschen Szene. Das meiste findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, aber immer wieder kommen wir an Bildmaterial.
Sebastian Lipp recherchiert vor Ort gegen Rechtsextremisten:
zvg/watson
Dann müsst ihr also sehr nah dran sein…? Ich kann dir nicht genau erzählen, wie wir unsere Informationen beziehen. Wenn wir mit Insidern arbeiten, können wir die natürlich nicht outen. Wenn wir Wege in die Szene kennen, können wir sie nicht offenlegen, weil sie sich sonst sofort schließen. Aber ich verspreche dir: Wir nutzen alle Mittel, die im Investigativ-Recherche-Handbuch stehen.
Sei ehrlich, ihr liegt stundenlang mit Fernglas im hohen Gras und beobachtet von Weitem Neonazi-Grundstücke. Natürlich gibt es das auch. Es gab auch diese Momente, in denen wir durch den Matsch gestapft sind, um von Hinten an eine Lokalität heranzukommen und dann ein Teleobjektiv hochzuflacken.
Hat eure Organisation denn viele Mitarbeiter? Das kann ich dir ebenfalls nicht sagen. Nur so viel: Mein Kollege Norbert Kelpp und ich vertreten unsere Arbeit nach außen. Dahinter stehen noch einmal eine Handvoll Rechercheure, die nicht erkannt werden wollen. Sie leben und arbeiten vor Ort, das wäre schlicht zu gefährlich für sie. Man muss sich in so einem Feld gut überlegen, ob die Recherche-Objekte einen wirklich kennen sollten. Die sind ja nicht gerade zimperlich.
Sie kennen dich… Ich bekomme natürlich laufend Drohungen und Beleidigungen. Vor allem aus dem AfD-Milieu nehmen sie extrem zu. Aber auch Übergriffe auf der Straße gibt es.
Hier zielte die AfD selbst auf Sebastian ab:
Screenshot/zvg
Ist schon einmal etwas Schlimmes passiert? Ich hatte einmal einen Kollegen, den Neonazis bei einem Konzert angingen. Zum Glück ist nicht zu viel passiert, aber er war leicht verletzt und die Kamera war kaputt. Ein Polizist in der Nähe sprang direkt auf den Angreifer, sonst hätte das anders ausgehen können. Wir hatten auch schon ein Gerichtsverfahren, nachdem uns eine Gruppe von VoA bis zum Auto verfolgte und es dann blockierten. Danach tauchten einige von ihnen bei meinem Kollegen Zuhause auf.
Die Szene ist organisiert, eure Recherchen könnten auch für eure Familien und Freunde gefährlich werden? Durchaus. Zum Glück kennen die meine Familie bisher nicht. Aber das könnte natürlich kommen. Nach einer Recherche waren beim gerade erwähnten Kollegen auch einmal die Scheiben seines Autos und des Wagens seiner Freundin eingeschlagen. Aber dafür haben wir uns an einem bestimmten Punkt entschieden, als wir sagten: Wir recherchieren diesen gefährlichen Leuten jetzt professionell hinterher. Da fällst du nicht einfach hinein, sondern entscheidest dich bewusst für das Risiko, weil die Arbeit so wichtig ist.
Warme Gedanken werden gegen Nazis kaum reichen, oder? Klar, ich habe auch meinen Alltag geändert. Ich versuche mir etwa keine Gewohnheiten anzueignen, die voraussehbar sind. Ich drehe mich auch mal dreimal um, wenn ich nachts unterwegs bin. Ich überlege mir: "Was wäre, wenn?" Dadurch gehe ich mit einer Situation anders um und baue die Gefahr automatisch in mein Leben ein.
Wenn es nicht gefährlich wäre, würdet ihr wohl was falsch machen. Wir recherchieren einer Szene hinterher, der das nicht passt. So ein Milieu will im Geheimen agieren und seine Angelegenheiten konspirativ organisieren. Wenn wir es ans Tageslicht zerren, machen wir uns damit nicht beliebt. Aber jede Bedrohung zeigt, dass wir an diese Leute herangekommen sind.
Normalerweise trifft sich VoA hinter idyllischen und verschlossenen Türen:
Allgäu rechtsaußen
Sowie in eurem neuen Report "Voice of Anger und der rechte Untergrund im Allgäu", der Ende März herauskommt. Ihr stellt darin fest, dass…? Dass VoA direkt aus der Skinheadszene aus den späten 90ern entstanden ist. Damals gab es die "Skinheads Allgäu 88". Der Staat hatte diese Gruppe damals sofort nach ihrer Gründung verboten, weil sie extrem gewalttätig auftrat und für den Nationalsozialismus agitierte. Die einzige Organisation, die sich seitdem gehalten hat, heißt Voice of Anger. Gegründet vor mehr als 16 Jahren und extrem stabil.
Das ist eine sehr lange Zeit für eine Gruppe, die es in Deutschland eigentlich nicht geben sollte. Ihre bürgerliche Fassade hat sie hartnäckig gemacht. Einerseits handelt es sich bei VoA um einen elitären Neonazi-Rockerclub, andererseits schaffen es die meisten Führungskader, sich ganz normal in der Gesellschaft zu bewegen. Sie agieren nicht als tumbe Skinhead-Truppe, sondern haben gute Jobs, eigene Unternehmen, sind selbstständig. Viele ihrer Bekannten oder Geschäftspartner wissen gar nichts von ihrer Ideologie und der Szenezugehörigkeit, das bietet ihnen Schutz.
Klingt ein wenig nach dem rechtsextremen "Hannibal"-Netzwerk, diesmal aber nicht in der Bundeswehr, sondern im Bürgertum. Und das hat den Effekt, das breite gesellschaftliche Schichten mit diesen Leuten Solidarität aufbauen, fernab von jeglicher Ideologie. Da gibt es sogar Freundschaften und Loyalität. Wir bemerken bei unseren Recherchen häufig, dass es unheimlich schwierig ist, das aufzubrechen. Die Leute können oder wollen die Ideologie und die Gewalt ihrer Bekannten nicht sehen.
Gab es solch eine Verbindung auch beim Fußballspiel in Chemnitz, als plötzlich Tausende einem bekannten verstorbenen Neonazi huldigten, nur weil er im Verein aktiv war? Ich denke, das ist ähnlich. Einerseits existiert da eine persönliche Beziehung über den Fußballverein. Hast du solch eine Beziehung erst einmal aufgebaut als Neonazi, schlägst du dann auch schnell die ideologische Brücke. Solche Ereignisse wie in Chemnitz geben dann wiederum der Nazi-Szene selbst eine gewisse Sicherheit. Die wissen: Wenn sowas wieder passieren sollte, dann können sie trotzdem mit Rückhalt über ihre eigene Szene hinaus rechnen.
Tausende huldigen einem Neonazi in Chemnitz:
Bild: www.imago-images.de
Hat das noch andere Folgen? Es führt in meinen Augen auch dazu, dass die Szene enormes Potential zur Mobilisierung bekommt. Da gab es einmal ein Beispiel im Allgäu als VoA eine Allgida-Demo auf die Beine stellte. Sie hatten in Nullkommanix in einem Dorf mit 5000 Einwohnern rund 150 Leute auf der Straße. Mitten im Hinterland, eine gar nicht mal so kleine Nazidemo, wo sonst niemand auf die Straße geht.
So sah die Allgida-Demo aus:
Allgida ist das Allgäuer Pendant zu Pegida.Allgäu rechtsaußen
Okay, also immer besser vernetzte rechte Kader, dazu immer fester sitzende Verbindungen ins Bürgertum. Was kann man da machen? Wir können als Rechercheure nur aufklären, der Rest liegt an der Gesellschaft selbst. Wir nehmen wahr, dass sich der Verfassungsschutz mittlerweile offenbar auch auf unsere Informationen stützt. Auch Anfragen im Bundestag oder in den Ländern beziehen sich auf uns. Es macht den Eindruck, als würde da etwas in Bewegung geraten.
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