Es sind mittlerweile mehr als drei Wochen vergangen, seit die russische Armee die Ukraine angegriffen hat. Viele Menschen versuchen, zu fliehen. Mehrere Millionen Menschen haben es laut dem UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR bereits aus der Ukraine heraus geschafft. Die meisten von ihnen suchen Schutz in Nachbarländern wie Polen, Moldau, Ungarn, Rumänien oder der Slowakei.
Doch auch in Deutschland sind viele Geflüchtete angekommen. Bisher sind es laut dem Bundesinnenministerium mehr als 100.000 Menschen. Die Geflüchteten werden auf Unterkünfte verteilt, viele Privatpersonen bieten ihre Hilfe an und nehmen für einen kürzeren oder längeren Zeitraum Menschen zu Hause auf. Ehrenamtliche kümmern sich um die Ankommenden.
Die Solidarität im Land ist groß.
In den vergangenen Wochen gab es aber immer wieder auch kritische Stimmen dazu, ob diese Solidarität gegenüber jedem Geflüchteten gelte und in der Vergangenheit gegolten hat. Oder, ob Menschen aus der Ukraine besser behandelt werden als Menschen aus Syrien oder Afghanistan.
Tareq Alaows kam 2015 aus Syrien nach Deutschhand. Er ist Politiker bei den Grünen und engagiert sich unter anderem bei der Nichtregierungsorganisation "Seebrücke" und dem Flüchtlingsrat Berlin.
watson hat mit Tareq Alaows über die aktuelle Flüchtlingssituation gesprochen. Er spricht darüber, was sich seit 2015 geändert hat, ob es Menschen aus der Ukraine heute leichter haben als Geflüchtete aus Syrien oder Afghanistan – und was Deutschland und die EU jetzt für eine bessere Migrationspolitik tun können.
watson: Herr Alaows, Sie haben auf Twitter geschrieben, dass in Berlin-Reinickendorf ein Flüchtlingswohnheim für neu ankommende Ukrainerinnen und Ukrainer geräumt wurde. Was ist da passiert?
Tareq Alaows: Ich habe Nachrichten bekommen, dass Menschen von der zuständigen Behörde in Berlin aufgefordert worden sind, innerhalb von 24 Stunden aus der Unterkunft auszuziehen. Sie mussten in andere Wohnheime gehen, weil Platz für neu Ankommende gemacht wird. Die betroffenen Personen haben erzählt, dass sie seit Jahren in dieser Unterkunft gewohnt haben, dass sie dort Strukturen haben, die Kinder dort in die Schule gehen. Sie waren sehr betroffen.
Mindestens eine Familie, von der ich weiß, wurde auf zwei Wohnheime getrennt. Die Berliner Regierung hat gesagt, sie bräuchten diese Unterkunft zur Registrierung, weil sie direkt am Ankunftszentrum in Berlin ist. Allerdings war das nicht die einzige Unterkunft, die geräumt wurde.
Der Grund war, dass sie den Status "Erstaufnahmeeinrichtung" haben. Trotz dieses Status mussten Leute aber schon längere Zeit dort wohnen, weil die Berliner Regierung nicht in der Lage war, eine dauerhafte Lösung für diese Leute zu finden. Als dann die Kapazitäten gebraucht wurden, mussten diese Leute innerhalb von 24 Stunden komplett ausziehen.
Welche Auswirkungen hat das für die Menschen, die die Unterkünfte verlassen mussten?
Es gab Fälle, in denen sich die Situation verbessert hat. Aber grundsätzlich war die Stimmung so, dass die Menschen gegen solche Umzüge waren, weil sie keine Möglichkeit hatten zu widersprechen. Sie mussten das auf jeden Fall machen. Sie haben alle Strukturen verloren, die zu ihrer Integration beitragen.
Einen Schulplatz in Berlin zu finden ist nicht einfach, einen Kita-Platz in Berlin zu finden ist nicht einfach. Und dann Kindern das zuzumuten, dass sie durch ganz Berlin fahren müssen, damit sie zu ihrer Schule oder Kita können, das ist gar nicht vorstellbar.
Was hat der Berliner Senat zu der Räumung gesagt?
Sie begründen das mit einer Ausnahmesituation. Und sie brauchen die Kapazitäten. Auf jeden Fall gibt es in Berlin nicht genügend, die Not ist hier groß. Das sieht man schon an der Situation am Hauptbahnhof. Die ganze Arbeit wird durch Ehrenamtliche erledigt, weil die Berliner Behörden nicht vorbereitet waren und man das gar nicht einschätzen konnte.
Nun gab es aber über die letzten Jahre die Aussage, dass man sich vorbereiten soll. Und stattdessen hat man Kapazitäten von 2015 und 2016 abgebaut. Man hätte einfach diese Strukturen aufrechterhalten und noch mehr fördern sollen. Das wurde leider in den letzten Jahren nicht gemacht. Das war einfach die komplette Richtung der Asyl- und Migrationspolitik in Deutschland seit 2015.
Die Situation in der Ukraine gerade hat aber gezeigt, dass wir diese Kapazitäten dringend brauchen, und dass wir schnellstmöglich jetzt neue aufbauen müssen. Wir sind immer noch am Anfang und unsere Strukturen sind komplett überfordert.
Mit Kapazitäten meinen Sie auch die Unterkünfte?
Ja, auch die Unterkünfte in vielen Bundesländern. Die Kapazitäten von vielen Erstaufnahmeeinrichtungen wurden reduziert, anstatt sie auszuweiten oder mindestens aufrechtzuerhalten. Das hätte der Senat über die letzten Jahre machen sollen. Jetzt sind wir in der Situation, da nützt es gar nicht mehr darüber zu sprechen.
Ich glaube, wir müssen daraus eine Lehre ziehen und schnellstmöglich Strukturen aufbauen, damit wir nicht durch bestimmte Entscheidungen andere Gruppen benachteiligen. Und wir müssen auf jeden Fall auch ermöglichen, dass ukrainische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die aus dem Krieg fliehen, hier einfach in Würde ankommen können.
Was ist außer den Räumungen jetzt nicht gut gelaufen?
Es ist jetzt nicht neu. Schon damals, 2015, als ich selbst auf der Flucht nach Deutschland war, habe ich gemerkt, dass Syrer als eine Gruppe einfach ganz anders behandelt und einfach viel besser gestellt wurden als zum Beispiel Afghaninnen und Afghanen oder Menschen aus afrikanischen Ländern.
Das habe ich an dem Umgang der Behörden gemerkt. Wie sie mich als Syrer behandelt haben, wie sie aber auch meine Freundinnen und Freunde, die aus Afghanistan oder afrikanischen Ländern kommen, behandelt haben. Und ich glaube, das dürfen wir jetzt nicht nochmal wiederholen.
Und wiederholt sich das gerade?
Also ich sehe da schon viel. Auch jetzt zum Beispiel, am Anfang der Krise in der Ukraine, der Umgang mit Drittstaatsangehörigen, die aus der Ukraine fliehen mussten. Und ich würde nicht sagen, dass das jetzt ein Phänomen nur in Deutschland ist.
Unsere Solidarität ist sehr groß. Und hat eine Tür in der Festung Europa geöffnet und hat für einen Kurswechsel in der Migrationspolitik gesorgt. Das hat auch bestätigt, dass ein anderer Umgang mit Schutzsuchenden möglich wäre. Man muss nur aufpassen, dass unser Umgang alle Menschen mitnimmt und nicht nur bestimmte Gruppe. Und, dass wir Gruppen nicht gegeneinander ausspielen.
Wie kommt das bei Geflüchteten an, die schon länger in Deutschland leben?
Es gibt viele offene Fragen. Tatsächlich kontaktieren mich täglich Menschen und fragen, ob die europäische Richtlinie zum Beispiel 2015 nicht möglich gewesen wäre. Warum hat man das Leid der Menschen in Kauf genommen? Sie mussten die komplette Balkan-Route durchlaufen und viele Jahre auf einen Schutzstatus hier in Deutschland warten.
Das sind auch berechtigte Fragen. Und ich glaube, diese müssen wir irgendwann noch mal gesamtgesellschaftlich diskutieren und ausdiskutieren. Für mich hat aber gerade erste Priorität, dass wir Menschen, die aus dem Krieg fliehen, einfach ermöglichen, hier anzukommen, und, dass diese Schutz bekommen.
Auf der anderen Seite sehe ich da auch eine Möglichkeit, dass die jetzige Situation gezeigt und bestätigt hat, dass ein anderer Umgang mit Schutz möglich wäre. Wir müssen nur beachten, dass dieser Umgang nicht nur eine Phase ist. Und dass wir so mit allen Menschen umgehen. Denn Kriege unterscheiden nicht nach Staatsangehörigkeit. Kriege unterscheiden nicht nach Hautfarbe.
Würden Sie sagen, dass sich im Vergleich zu 2015 auch etwas verbessert hat?
Auf jeden Fall. Ich sehe gerade eine große Chance, dass wir den solidarischen Umgang mit ukrainischen Menschen etablieren. Auf der anderen Seite ist aber auch ein Beispiel: An der polnisch-belarussischen Grenze harren Hunderte von Menschen aus. Sie sind seit Monaten dort und müssen immer noch in Wäldern ausharren und haben nichts zum Essen oder zu trinken.
Und ich frage mich: Wäre es nicht angemessen, wenn wir diese Menschen nicht auch mitnehmen in unserer Solidarität? Diese Menschen dürfen wir nicht vergessen. Auch Menschen, die uns unterstützt haben, Ortskräfte und Menschenrechtsverteidiger, die dürfen wir nicht aus den Augen verlieren.
Wo würden Sie konkreten Verbesserungsbedarf sehen?
Europa hat sich in den letzten Wochen geeinigt, dass der Schutz der Menschen sehr wichtig ist und hat gezeigt, dass eine europäische Lösung auch möglich und umsetzbar wäre. Ich glaube, wir müssen dieses Beispiel noch einmal verallgemeinern. Wir müssen schauen, ob wir in den letzten Jahren im Umgang mit Schutzsuchenden versagt haben. Und wir müssen nochmal darüber nachdenken, ob ein anderer Umgang damals nicht möglich gewesen wäre.
Ich hätte mir 2015 einen anderen Umgang gewünscht. Ich freue mich, dass wir jetzt gerade dazu gekommen sind, so einen Umgang zu finden. Wir müssen das wirklich nur systematisieren in unseren Gesetzen. Wir müssen genau alle Menschen gleich behandeln.