![Maral Koohestanian auf Volt Europa Tour in Helsinki Finnland](/imgdb/e431/Qx,A,16,16,1969,1302,899,411,79,79/421147304283823)
Maral Koohestanian ist die Spitzenkandidatin von Volt. Was will die Partei erreichen?bild: Rebecca Rütten
Interview
Volt holte bei der Europawahl in Deutschland 2,6 Prozent der Stimmen. In Hochburgen wie Darmstadt (10,6) und Heidelberg (9,6) gab es echte Sensationsergebnisse. Damit war die paneuropäische Partei der große Gewinner unter den kleinen Parteien. Besonders auffällig: Sehr, sehr viele Wähler:innen waren junge Menschen.
Maral Koohestanian (33) führt die Partei als Spitzenkandidatin im Bundestagswahlkampf an. Watson hat sie in Berlin getroffen und mit ihr über progressive Lösungen, die Digitalisierung und Fake News von Friedrich Merz gesprochen.
watson: Maral, braucht Deutschland wirklich noch eine Partei im Bundestag?
Maral Koohestanian: Wir sind bei der Europawahl bei den Jungwähler:innen bei knapp 8 Prozent gelandet. Wir haben den Auftrag bekommen, als Stimme der jungen Generation mit Mut und Optimismus in den Bundestag einzuziehen. Und wir sehen alle, dass viele junge Menschen gerade auf die Straße gehen, weil sie unzufrieden sind. Ich gehe davon aus, dass wir im nächsten Bundestag vertreten sein werden.
Du gehst davon aus?
Ja.
Das überrascht, weil viele Menschen überlegen, taktisch zu wählen, um eine starke AfD zu verhindern.
Ich verstehe den Reflex. Aber umgekehrt ist es korrekt: Ohne Volt steigt die Gefahr einer Mehrheit von CDU/CSU und AfD. Wer das verhindern will, muss Volt wählen, denn zwei Prozent mehr für Volt bedeuten den Einzug in den Bundestag mit mindestens 30 Sitzen, die zum progressiven Lager addiert werden. Im Vergleich dazu ergeben zwei Prozent mehr für die Grünen nur zehn zusätzliche Sitze. Und: Wann wollen wir endlich etwas grundsätzlich verändern, wenn nicht jetzt? Das Momentum spricht für uns.
"Wir benötigen eine zukunftsfähige Politik, die auch an die Menschen denkt, die die Zukunft noch vor sich haben."
Auf euren Wahlplakaten steht: "Holen wir uns die Zukunft zurück!" Wo genau haben wir sie verloren?
Die Politik der vergangenen Jahre hat gerade jungen Generationen die Zukunft geraubt. Im Bundestag sitzen hauptsächlich Menschen, die nicht das Gesamtbild unserer Gesellschaft repräsentieren. Aber: Wir benötigen eine zukunftsfähige Politik, die auch an die Menschen denkt, die die Zukunft noch vor sich haben. Und genau das ist unser Ansatz.
![Maral Koohestanian reiste durch Europa. Vor allem Estland hat sie beeindruckt.](/imgdb/a556/Qx,B,0,420,1334,1333,626,959,82,82/3119498714301784)
Maral Koohestanian reiste durch Europa. Vor allem Estland hat sie beeindruckt.bild: volt
Du bist durch Europa gereist, um dir zukunftsfähige Lösungen in anderen Ländern anzuschauen. Was hat dich besonders beeindruckt?
Estland ist schon krass, wenn man sich die Digitalisierung anschaut. Da wählt man sogar digital. Die haben 20 Jahre Vorsprung in diesem Bereich. Zur Wahrheit gehört, dass dort ein ganz anderes Vertrauen in die Politik vorhanden ist, wenn es um die Sicherheit von Daten geht. Was wiederum daran liegt, dass die Politik transparent und offensiv mit Problemen umgeht und hohe Strafen auf Datenmissbrauch eingeführt hat, während man hier versuchen würde, das eher unter den Teppich zu kehren.
Du bist Dezernentin für Smart-City für Volt in Wiesbaden. Geht's voran?
Wir haben das Video-Ident-Verfahren eingeführt, um Leuten den Gang zum Amt zu ersparen. Wir haben gesagt: Die Lösungen sind schon da. Jede:r kennt das, wenn man schon einmal ein Konto digital eröffnet hat. Zur Vorstellung gab es eine Pressekonferenz, die völlig überlaufen war. Wir mussten zweimal in einen größeren Raum wechseln. Mir wurde erst hinterher bewusst: Wir waren die allererste Stadt, die sich das getraut hat.
Hast du eine Erklärung dafür, warum Deutschland in diesem Bereich nicht vom Fleck kommt?
Es sind der fehlende Mut und der fehlende Optimismus, die ich schon angesprochen habe. Klar, man kann auch mal scheitern mit ambitionierten Projekten. Aber es kann doch nicht wahr sein, dass wir uns vor lauter Angst nicht an zukunftsfähige Politik herantrauen.
Wie bleibst du bei der Klimakrise optimistisch?
Ich bin nicht optimistisch, wenn ich sehe, was hier für eine Politik gemacht wird. Aber ich sehe, dass es Lösungen geben würde. Wir bezahlen in Deutschland rund 60 Milliarden Euro pro Jahr an klimaschädlichen Subventionen. Überlegt mal, wie viele sinnvolle Dinge wir mit diesem Geld umsetzen könnten. Stattdessen spricht niemand mehr darüber, dass wir das 1,5-Grad-Ziel schon verfehlt haben. Und jetzt muss ich nochmal ausholen...
Bitte schön!
Ich habe in Skandinavien mit Menschen auf der Straße gesprochen. Alle sagen: Wir bezahlen gerne Steuern, weil wir wissen, dass der Staat mit unserem Geld viele sinnvolle Dinge tut, die uns helfen. Dieses Gefühl haben junge Menschen in Deutschland nicht.
Volt ist eine europäische Partei. In Deutschland wählen rund 20 Prozent eine Partei, die die D-Mark wieder einführen möchte, während die Welt vor Donald Trump und Wladimir Putin Angst hat. Wie funktioniert dieser Spagat?
Ich erkenne keinen Spagat. Von Migration und Asyl über die Digitalisierung bis hin zur Klimakrise werden nur europäische Lösungen funktionieren. Wer das negiert, betreibt Populismus. Ohne starkes Europa haben wir keine Zukunft.
"Ich behaupte nicht, dass ich die Weisheit mit Löffeln gefressen habe, wie es die vielen alten, weißen Männer in der Politik tun."
Gleichzeitig steht in eurem Wahlprogramm, dass ihr an den Föderalismus ran wollt. Zum Beispiel im Schulsystem. Das würdet ihr mit keiner Partei durchbekommen.
Das deutsche Schulsystem ist schlecht. Es ist nicht zeitgemäß, dass jedes Bundesland sein eigenes Ding macht, weil das eine Modernisierung behindert. Die ganze Welt redet von Fake News, aber wir vermitteln unseren Schüler:innen nicht, wie man sie von echten Nachrichten unterscheidet. Wir bei Volt streichen unsere Visionen nicht, nur weil irgendjemand uns sagen will, dass sie nicht umsetzbar seien.
"Das geht nicht" ist ein ziemlich beliebter Satz bei progressiven Vorschlägen.
Ich behaupte nicht, dass ich die Weisheit mit Löffeln gefressen habe, wie es die vielen alten, weißen Männer in der Politik tun. Wenn ein 70-jähriger Konservativer keine Ahnung von KI oder Digitalisierung hat, will ich ihm das nicht vorwerfen. Aber ich erwarte, dass er sich Expert:innen holt, die zukunftsfähige Lösungen entwickeln. Wir haben ein Wahlprogramm entworfen, das auf Zahlen, Fakten und der Wissenschaft basiert und nicht auf einem Bauchgefühl, das zum politischen Narrativ im Wahlkampf passt.
Narrative dominieren den Wahlkampf vor allem beim Thema Migration. Wie blickst du auf die aktuellen Entwicklungen?
Das, was gerade passiert, ist brandgefährlich. Wenn Friedrich Merz von täglichen Massenvergewaltigungen spricht, die nicht existieren, verbreitet er Fake News und schürt Ängste, um Bundeskanzler zu werden.
Du bist Kind eines iranischen Einwanderers. Emotionalisiert dich die Entwicklung besonders?
Natürlich. Mein Vater hat in seinem Whatsapp-Status nach der Abstimmung mit der AfD geschrieben: "Ich habe 30 Jahre lang hier gearbeitet und war Teil dieser Gesellschaft. Und dann kommt Friedrich Merz und sagt, du bist Bürger zweiter Klasse." Für mich gilt das auch. Ich habe die doppelte Staatsbürgerschaft, aber wenn sich dort politisch nichts verändert, werde ich nie wieder in die Heimat meines Vaters können, weil ich mich hier politisch engagiert habe.
Nehmen wir mal an, ihr zieht in den Bundestag ein. Dann könntet ihr sofort benötigt werden für eine Kanzlermehrheit. Was wäre deine Wunschkoalition?
Die AfD ist raus, klar. Bei allen anderen Parteien möchte ich nicht vorschnell Dinge rausposaunen, auch wenn klar ist, dass einige Parteien deutlich besser zu uns passen als andere.
Volt würde mit der Union regieren?
Die Union, die wir aktuell erleben, macht die Vorstellung schwer – das ist klar. Für uns ist wichtig: Wir möchten Dinge verändern. Also würden wir, wenn man uns einlädt, sprechen und beurteilen, ob die möglichen Koalitionspartner mutig genug sind, Teile unserer Ideen auch wirklich umzusetzen. Wir sind schon in mehreren Städten Teil der Regierung.
Dann spielen wir doch mal "Wünsch dir was": Welches Ministerium hättest du gerne?
(Lacht.) Sollte es so weit kommen, glaube ich, dass niemand übersehen kann, dass ein Digitalministerium bei uns sehr gut aufgehoben wäre.