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Interview

Jette Nietzard spricht über die Gen Z, Schwarz-Grün und Robert Habeck

Jette Nietzard ist seit Herbst 2024 Bundessprecherin der Grünen Jugend.
Jette Nietzard ist seit Herbst 2024 Bundessprecherin der Grünen Jugend.bild: Julia Bornkessel
Interview

Jette Nietzard: "Habe nicht den Eindruck, dass junge Menschen aufgegeben haben"

24.01.2025, 19:00
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Jette Nietzard ist seit Oktober 2024 Sprecherin der Grünen Jugend. Vor dem Grünen-Parteitag am Sonntag in Berlin hat watson die 25-Jährige zum Interview getroffen.

Nietzard spricht über ihre Arbeit mit Geflüchteten, lehnt Schwarz-Grün ab, kritisiert auch Robert Habeck und redet über die Attacken von AfD-Politikern wegen eines Bikinifotos.

watson: Jette, wir versuchen bei watson, den positiven Blick nie zu vergessen. Was macht dich mit Blick auf die jungen Menschen in diesem Land optimistisch?

Jette Nietzard: Wenn ich mit jungen Menschen auf der Straße spreche, macht mich das optimistisch. Ich hatte vermutet, wir stehen im Winter-Wahlkampf draußen und alle hassen uns. Aber so ist es nicht. Es liegt ein Aufbruch in der Luft.

An den Umfragewerten der Grünen kann man das nicht erkennen.

Ich habe schon den Eindruck, dass sich was bewegt. Zum Beispiel bei unseren Mitgliederzahlen. Die gehen seit November durch die Decke.

Welche Themen kommen bei dir im Wahlkampf an?

Mieten sind ein Riesenthema, Menschen machen sich Sorgen über die Bezahlbarkeit ihres Alltags und ihrer Zukunft. Von jungen Menschen kommen immer häufiger Fragen zur Rente.

Was antwortest du beim Thema Mieten?

Dass sie wieder bezahlbar werden müssen. Studierende geben im Schnitt 52 Prozent ihres Einkommens für Wohnen aus, bei Auszubildenden sind es 42 Prozent. Das ist ein Zustand, den ich nicht akzeptieren will. Wohnen ist ein Grundrecht und darf nicht zum Spielball von Großkonzernen an Aktienmärkten sein. Schauen wir uns Berlin an: Hier sind Wohnungen Spekulationsobjekte. 10.000 stehen seit mehr als einem Jahr leer. Das geht nicht.

Jette Nietzard von der Grünen Jugend
Jette Nietzard führt die Grüne Jugend gemeinsam mit Jakob Blasel an.Bild: imago images / Frank Turetzek

Und bei anderen Finanzthemen?

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Staat das BAföG nicht erhöhen muss, auch wenn es nicht zum Leben reicht. Das sehen wir anders und fordern hier eine andere Politik. Und genauso sollte ein Mindestlohn für Minderjährige kommen.

"Ich wehre mich gegen das Narrativ, dass nur die jungen Menschen schuld am Rechtsruck sind."

Mit diesen Themen bewegt man die Massen nicht, weil der Großteil der Wähler:innen in Rente oder der Rente sehr nahe ist.

Also erstmal bin ich mir sicher, dass ein Sinn für Gerechtigkeit keine Frage des Alters ist. Soziale Politik brauchen wir für alle Teile der Gesellschaft. Und genau deshalb dürfen wir den Kopf nicht in den Sand stecken, sondern müssen laut sein. Ich habe nicht den Eindruck, dass junge Menschen aufgegeben haben. In der öffentlichen Debatte sind oft nur andere lauter.

Womit wir bei Rechtsaußen wären. Warum wählen so viele junge Menschen die AfD, die einst Kernzielgruppe der Grünen waren?

Ich wehre mich gegen das Narrativ, dass nur die jungen Menschen schuld am Rechtsruck sind. Die Alten wählen die AfD genauso. Es geht ein Rechtsruck durch die westliche Welt. Was hilft, ist, Menschen zu beweisen, dass sich Demokratie für sie lohnt. Und den jungen Menschen reicht da eine Fünf-Euro-Erhöhung des BAföGs ebenso wenig wie die Cannabis-Legalisierung. Die nächste Regierung muss die Lebensumstände der Menschen sichtbarer verbessern.

Was sind die Schlagworte, mit denen das bei jungen Menschen gelingen kann?

Mieten, Schuldenbremse, Klimakrise, Rechtsruck. Kein Mensch wird eine Regierungspartei erneut wählen, wenn die Mieten in vier Jahren noch immer so hoch sind. Da können Friedrich Merz, Olaf Scholz und manchmal auch Robert Habeck noch so oft über Abschiebeflüge sprechen. Das ändert nichts an den wahren Problemen.

"So, wie Friedrich Merz und Markus Söder sich positioniert haben, ist Schwarz-Grün undenkbar."

Was ist für dich die Konsequenz daraus, wenn der Grünen-Kanzlerkandidat Dinge sagt, die vor ein paar Jahren noch undenkbar waren?

Die Grüne Jugend ist der linkeste Flügel der Partei. Für uns heißt das: Wir müssen uns noch besser organisieren. Und das kriegen wir hin.

Ist für dich Schwarz-Grün eine mögliche Regierungsoption?

Keine Menschenrechte, keine Kinderrechte, keine Frauenrechte. So wie Friedrich Merz und Markus Söder sich positioniert haben, ist Schwarz-Grün undenkbar. Weder für junge Menschen noch für die Grünen wäre eine solche Koalition eine gute Idee. Da ist meine Antwort: Eine gute Opposition ist in der Demokratie viel wert.

Du bist keine Berufspolitikerin, sondern arbeitest mit minderjährigen unbegleiteten Geflüchteten. Wie ist das so?

Ich liebe alles daran. Es gibt so viele wundervolle Momente, während man auf professioneller Ebene die Familie für die Leute ist, weil sie sonst hier niemanden haben. Mit den Menschen, die kriminalisiert werden, gegen die gehetzt wird und vor denen immer nur gewarnt wird, verbringe ich meine Abende und Nächte in den Spätdiensten. Und dabei bekommt man auch ein Bild der Realität.

Wie zum Beispiel?

Fast alle junge Frauen, mit denen ich arbeiten konnte, wurden auf der Flucht vergewaltigt. Ich sehe junge Männer, die hier News lesen und mich fragen: "Werde ich abgeschoben, wenn Friedrich Merz Kanzler wird?" Und ich sah das Staatsversagen, als all die Ukrainer:innen ankamen. Die mussten am Berliner Hauptbahnhof ohne Decken schlafen, weil der Staat nicht in der Lage war, welche zu organisieren. Die Bundesregierung verweigert nicht absichtlich Decken für Geflüchtete, aber wir müssen uns schon fragen, warum ein Staat nicht einmal das sicherstellen kann. Dasselbe gilt, wenn junge Menschen sechs bis acht Monate auf einen Schulplatz warten müssen. Wie soll so Integration funktionieren?

Drei Jahre später ist die Debatte eine andere.

Das sehe ich anders. Wir reden immer noch über Menschenrechte. Und dann kommt Friedrich Merz, der sich noch nie die Asylgesetze angeschaut haben kann, wenn ich ihn so reden höre. Drei Viertel der Menschen, die er ausreisepflichtig nennt, kann Deutschland aus rechtlichen Gründen nicht abschieben. Ob er will oder nicht. Wer behauptet, dass wir deshalb keine Kindergrundsicherung bezahlen können, lügt. In Wahrheit geht es um Verteilungskonflikte, genauer gesagt um die Verteilung von Vermögen in dieser Gesellschaft. Und dabei konkurrieren nicht die Beschäftigten mit Geflüchteten, sondern mit Milliardären.

Die gesellschaftlichen Debatten sind digital nicht nur beim Thema Geflüchtete vergiftet. Steckt hinter deinen eigenen Social-Aktivitäten eine Strategie?

Es reicht nicht, einfach gegen rechts zu sein. Eines meiner erfolgreichsten Tiktoks war ein Video, in dem ich viele Fakten zur Geflüchtetenhilfe aufgezählt habe. Und als kürzlich ein paar AfDler wegen meines Bikinifotos durchdrehten, habe ich ganz die Aufmerksamkeit genutzt, um darauf hinzuweisen, dass diesen Hass Frauen mit Kopftuch tagtäglich auf offener Straße erleiden müssen, auch ohne eine öffentliche Person zu sein. Reichweite ist kein Selbstzweck, sondern ein Sprachrohr für Themen, die uns wichtig sind.

Für deinen Tweet zu den Silvester-Böllern hast du dich entschuldigt, die Bikini-Nummer entstand aus der rechten Bubble. Du wirktest in deiner Reaction bestimmt und cool. Lässt du das wirklich nicht an dich ran?

Ich will diesen Menschen nicht die Genugtuung geben, dass ich wegen ihres Hasses heulend auf dem Sofa sitze. Aber natürlich denke ich mir manchmal: "What the fuck?"

Hast du aus der Bikinifoto-Aufregung Erkenntnisse gewonnen?

Ich will vor allem das Narrativ durchbrechen, das besagt, dass die arme Frau wieder von einem bösen Nazi angegriffen wurde und beschützt werden muss. Ja, das trifft mich, und es trifft vor allem Frauen. Aber: Dadurch bekomme ich eine Plattform und die nutze ich. Ich will als junge Frau wirken und mich nicht einschränken lassen. Und dahinter steckt ja noch ein anderer Aspekt.

Welcher?

Junge Frauen werden immer progressiver, junge Männer immer konservativer, während der Feminismus uns ermöglicht hat, dass eine Frau ihren Mann nicht mehr fragen muss, ob sie ein Bankkonto eröffnen darf. Und doch sind manche Männer in ihrer Denkweise in den 50er Jahren hängengeblieben.

Transparenzhinweis
Jette Nietzard wollte im watson-Interview keine Fragen zum Fall Stefan Gelbhaar beantworten. Drei Stunden später äußerte sie sich auf einer Pressekonferenz zum Thema und wurde für ihre Aussagen teils scharf kritisiert. Einer Bitte um ergänzende nachträgliche Fragen vor Veröffentlichung dieses Interviews kam sie nicht nach: "Von meiner Seite ist alles gesagt."
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