Als sich Jillian Kowalchuk an einem Nachmittag diesen Jahres vor die Kamera stellt, will sie eigentlich einen Werbespot für ihr Produkt "Safe and the City" drehen.
Mit der App möchte die gebürtige Kanadierin Passanten vor gefährlichen Routen warnen und so vor Übergriffen und sexueller Belästigung schützen.
Doch ausgerechnet während sie den Spot dreht, läuft ein Mann ins Bild, drängt sich Jillian auf und presst ihr schließlich einen Kuss auf die rechte Wange.
Solche Situationen sind ihr, wie vielen anderen Frauen weltweit, bekannt. Auf die Idee zu ihrer App sei sie gekommen, erzählt Jillian, als sie eines Nachts mittels Navigationsapps durch dunkle Gassen und Parks gelotst wurde. In einer der dunklen Gassen näherten sich ihr zwei Männer und bedrohten sie. "Niemand war da", erzählt Jillian. Die Männer seien ihr zwar nahe gekommen, aber sie konnte schließlich noch fliehen.
Anders beim Dreh zu ihrer App, bei dem alles mit der Kamera festgehalten wurde.
watson: Erzähl uns von dem Tag des Videodrehs. Wo und wann habt ihr die Aunahmen gemacht?
Jillian Kowalchuk: Das Video wurde nachmittags in Shoreditch, im Nordosten von London, gedreht. Eine Gegend, in der ich mich auskenne und die dafür bekannt ist, dass dort ein respektvoller Umgang herrscht, viele Künstler und Alternative dort leben. Mein Junior-Teammitglied und ich wollten gerade Aufnahmen davon machen, wie ich laufe während ich die App und unsere Crowdfunding-Kampagne erkläre.
Dann wurdest du unterbrochen. Was ging dir durch den Kopf, als der Mann ins Bild lief?
Ich dachte zunächst, er würde "Safe and the City" dafür loben, dass wir mit der Metropolitan Police zusammenarbeiten. Darüber redeten wir nämlich, als er sich uns näherte. Ich versuche erst, ihn zu ignorieren und weiter zu machen, aber dann wollte er mit ins Bild. Also versuchte ich, zu improvisieren, fragte ihn ob er ein shout out für "Safe and the City" machen wolle. Das benötigte mehrere Anläufe, da es ihm schwer fiel, den Namen korrekt auszusprechen.
Dieses Gefühl kannte ich schon und ich ahnte, was als nächstes passieren würde. Aus Verlegenheit fing ich an, zu lachen, während sein Griff um meinen Arm immer fester wurde und er mich zu sich heran zog.
Und während ich versuchte, mich aus seinem Griff zu lösen und zu distanzieren, konnte er mir noch gerade so einen Kuss auf die Wange drücken.
Ich lief dann weg und meine Kamerafrau war genau so schockiert wie ich, solch einen Moment eingefangen zu haben. Also sah ich direkt in die Kamera und das einzige, das mir in den Sinn kam, war "Yup" zu sagen, während ich versuchte, die Ironie der Situation wegzulachen.
Warum hast du dich entschlossen, das Video auf YouTube hochzuladen?
Ich wollte eine Diskussion darüber beginnen, warum es noch zu solchen Vorfällen kommt. Außerdem wollte ich zeigen, dass Menschen, die sexuelle Belästigung erleben, sich niemals daran gewöhnen und das auch nicht sollten. Gewöhnen wir uns je wirklich daran, beschimpft zu werden? Oder wenn unsere physischen Grenzen überschritten werden? Wir müssen Kriminalität verhindern, sowohl kurzfristig mit Überwachung und anderen Tools, als auch langfristig mit Sicherheitskonzepten und Bildung.
Wie schaust du heute, mit ein paar Wochen Abstand, auf die Situation?
Ich habe einen kurzen Blog-Eintrag darüber geschrieben, wie es ist, eine solche Erfahrung vor der Kamera zu machen. Ich beschreibe darin, wie sehr meine Reaktion auf den Mann kritisiert wurde und wie sehr ich sie selbst kritisierte.
Ich frage mich: Warum habe ich ihn nicht geschubst oder geschrien, ihn gestoppt bevor es passiert? Warum bin ich nicht weg gerannt? Nicht jeder hat eine Situation sexueller Belästigung auf Tape, die man zurückspulen, analysieren und beurteilen kann.
Ein Problem mit Vorfällen dieser Art ist: Wir werden von ihnen überrascht. Wir erstarren, wissen nicht, was wir tun oder wie wir um Hilfe fragen sollen. Deswegen ist es sehr wichtig, dass wir uns darüber Gedanken machen, wie wir nicht nur uns selbst, sondern auch andere Menschen davor schützen können, belästigt zu werden.