watson.ch: Herr Chaar, wir haben uns vor fünf Jahren zum letzten Mal gesprochen. Schon damals haben Sie vorausgesagt, dass Deutschland Probleme bekommen wird. Congrats, Sie hatten recht. Wie sehen Sie die Situation heute?
Samy Chaar: Danke, danke, ich habe mich in meiner Karriere auch öfter mal geirrt. Was Deutschland betrifft: Es gibt immer noch Hoffnung. Aber die Deutschen müssen endlich die richtigen Maßnahmen ergreifen.
Heißt das, sie müssen endlich vom überholten ökonomischen Denken wegkommen, von der Schuldenbremse, beispielsweise?
Die kurze Antwort lautet: ja.
Und die lange Antwort?
Die Deutschen haben ihre wirtschaftliche Identität verloren. Ihr ganzes Denken war bisher auf Export ausgerichtet. Fairerweise müssen wir sagen, dass die Deutschen nicht die Einzigen sind, die unter einem Identitätsverlust leiden. Das gilt etwa auch für die Briten, vielleicht sogar für die Chinesen.
Was genau verstehen Sie unter einer wirtschaftlichen Identität?
Es ist im Grunde genommen das Gleiche wie die individuelle Identität. Es ist sehr schwierig, sie zu ändern. Das gilt derzeit für die Deutschen in besonderem Masse. Während Jahrzehnten haben sie auf den Export gesetzt, und jetzt müssen sie umdenken. Sie müssen ihr Business-Modell über Bord werfen. Das ist sehr hart, denn der erste Reflex in einer Krise ist, zurück zu dem, was man kennt.
Braucht es harte Reformen der Arbeitswelt, wie dies Gerhard Schröder zu Beginn dieses Jahrhunderts mit der Hartz-Reform getan hat?
Nein, das würde bedeuten, noch mehr auf Export und Wettbewerbsfähigkeit setzen zu wollen. Doch darum geht es heute nicht mehr.
Ist der Titel eines Export-Weltmeisters wertlos geworden?
Absolut. Von dieser Identität müssen sich die Deutschen endlich lösen. Wer hat heute den größten wirtschaftlichen Erfolg? Die USA. Und was sind die Vereinigten Staaten: Import-Weltmeister.
Was hat sich in den letzten Jahrzehnten so grundlegend geändert?
Heute geht es weniger um internationale Wettbewerbsfähigkeit als um Innovation. Das sind zwei unterschiedliche Dinge. Und die Innovation beginnt mit der Politik im eigenen Land.
Kann Deutschland seine wirtschaftliche Identität aus eigener Kraft ändern, oder braucht es dazu ein wirtschaftlich vereinigtes Europa?
Es braucht beides. Wir müssen begreifen, dass sich die Weltordnung grundsätzlich verändert hat. Deutschland war Export-Weltmeister in einer Welt, in der die Globalisierung in vollem Schwung war. Aber diese Welt gibt es nicht mehr. Heute leben wir in einer fragmentierten Welt, die von verschiedenen Blöcken dominiert wird.
Wir haben den amerikanischen Block und seine Alliierten, den chinesischen Block und seine Alliierten und den Block der Unabhängigen. Die Länder, die sich in einem Block befinden, müssen ein sogenanntes De-Risking von den Ländern des anderen Blocks machen. Will heißen: sichere Lieferketten, sichere Energieversorgung, sichere Verteidigung aufbauen. Um dies zu gewährleisten, müssen große Investitionen getan werden.
Diese Investitionen müssen mit Krediten finanziert werden, oder nicht?
Die Amerikaner haben dies erkannt. Sie haben den Paradigmenwechsel vollzogen. Ebenso die Chinesen. Die Europäer hingegen noch nicht.
Woran ist das zu erkennen?
Die Regeln in der Weltwirtschaft, die von Blocks dominiert ist, haben sich geändert. Wer heute noch am Ziel von einer jährlichen Neuverschuldung des Staates von drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) festhält, ist noch im alten Paradigma gefangen. Bei den Amerikanern beträgt diese Neuverschuldung derzeit rund sechs BIP-Prozente, bei einer gut laufenden Wirtschaft, wohlverstanden.
Auch die Einschätzung der staatlichen Gesamtschulden hat sich verändert. Warum sollen es 60 BIP-Prozente sein? Warum nicht 100, 150, oder mehr als 200? Niemand kann darauf eine definitive Antwort geben. Japan hat eine Staatsverschuldung von 250 BIP-Prozenten.
Werden Kredite für Innovation verwendet, ist dies also kein Problem?
Genau, wenn man die Ausgaben für Innovationen der USA mit denjenigen von Deutschland vergleicht, dann sieht man, dass die Amerikaner viel mehr investieren. Und der Markt honoriert das sehr.
Die nächste deutsche Regierung wird eine konservative sein. Wird ausgerechnet diese Regierung in der Lage sein, ihre wirtschaftliche Identität zu verändern?
Ich möchte das gerne glauben. Aber ich würde noch kein Geld darauf wetten. Die Amerikaner haben es getan – und ihre Wirtschafts-Performance ist weit besser als diejenige von Deutschland. Sie haben mehr Wachstum, mehr Innovation und ein größeres Wachstum der Produktivität.
Kann Europa diesen Vorsprung einholen?
Ja, wenn die Ausgaben für Innovationen verdreifacht werden.
Wenden wir uns dem Elefanten in der Stube zu: Donald Trump. Er will den "Tarif man" spielen, will heißen, er will die Importzölle massiv erhöhen.
Die Amerikaner wissen, dass sie die Einzigen sind, die weltweit etwas für sich in Anspruch nehmen können: die Nachfrage. Deshalb werden sie gelegentlich auch "die Konsumenten in letzter Instanz" genannt. Alle anderen sind Angebots-Champions, China, Deutschland, Mexiko, Japan und auch Indien. Sie alle schauen auf den amerikanischen Konsumenten. Das wissen die Amerikaner, und ich verstehe Donald Trump so, dass er sagt: Okay, ihr könnt Zugang zu unserem Konsummarkt haben, aber ihr müsst dafür bezahlen. Er will den "Konsumenten in letzter Instanz" zu einer Geldquelle machen.
Die Finanzmärkte gehen derzeit noch davon aus, dass er mit seinen angekündigten Strafzöllen blufft. Teilen Sie diese Einschätzung?
Er blufft nicht, er verhandelt. Er will eine Art Eintritts-Gebühr für den amerikanischen Konsumenten-Markt.
Diese Gebühr müssen jedoch die amerikanischen Konsument:innen mit einer höheren Inflation bezahlen.
Es wird nicht der Betrag sein, von dem jetzt bei den Strafzöllen die Rede ist. Es wird daher auch keinen so großen Inflationsschock auslösen. Ich rechne in 2025 mit einer Inflation in der Größenordnung von 2,5 Prozent. Im Gegenzug werden die amerikanischen Konsumenten mit tieferen Energiepreisen entlohnt. Zudem werden die Europäer mehr amerikanische Güter und Dienstleistungen kaufen. Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, hat bereits dazu aufgefordert. Alles in allem wird die Rechnung für den amerikanischen Konsumenten daher aufgehen.
Trump wird die Zoll-Keule auch weiterhin schwingen. Sorgt er damit nicht für eine permanente Unsicherheit auf den Märkten?
Das mag sein, aber damit muss sich der Rest der Welt abfinden und sich darauf einrichten. Niemand hindert die Chinesen oder die Europäer daran, mehr in ihre eigene Wirtschaft zu investieren. Europa hat im Gegenteil eine fantastische Chance: Es hat einen großen Binnenmarkt und es besteht ein Investitions-Defizit. Weshalb sollen die Europäer also nicht mehr in die Verteidigung, in mehr Innovation, mehr Infrastruktur und mehr Energie investieren? Gerade damit könnten sie sich gegen Trump und dessen Launen schützen.
Mit anderen Worten: Der Trump-Schock könnte auch ein Segen für Europa sein?
Wenn wir die richtigen Entscheidungen treffen, ja.
Trump hat einmal mehr Glück. Er kann eine Wirtschaft in bester Verfassung übernehmen. Wird er mit seinen Steuererleichterungen einen neuen Boom auslösen?
Vielleicht keinen Boom, aber die amerikanische Wirtschaft wird wahrscheinlich noch schneller als aktuell wachsen. Ich will folgenden Vergleich machen: Die US-Wirtschaft ist jetzt auf der Autobahn mit 120 km/h unterwegs, unter Trump werden es 140 km/h sein.
Trump ist neuerdings auch ein Krypto-Fan. Er will fast alle einschlägigen Gesetze abschaffen. Wird es deshalb zu einer riesigen Krypto-Blase kommen, wie manche schon befürchten?
Bis dato haben die Kryptos keine wirtschaftliche Bedeutung. Sie werden nicht für den globalen Zahlungsverkehr verwendet, auch nicht als Reservewährung für die Zentralbanken.
Genau dies will Trump aber ändern.
Warten wir mal ab. Der Reserve-Währungs-Markt wird vom Dollar beherrscht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Trump einen Konkurrenten zum Dollar aufbauen will.
Was für eine Rolle sollen die Kryptos dann spielen?
Für mich sind sie als Vermögenswert vergleichbar mit Kunstobjekten. Es gibt Menschen, die bereit sind, dafür einen bestimmten Preis zu bezahlen, ähnlich wie es Menschen gibt, die bereits sind, für ein Bild einen bestimmten Preis zu bezahlen. Und übrigens: Finanziell geht es dem Kunstmarkt sehr gut.
Wir leben derzeit in einer sehr gefährlichen Welt. Werden sich die geopolitischen Schwierigkeiten nicht auch einmal auf den Finanzmärkten bemerkbar machen?
Es mag erstaunlich sein, aber bisher hat die Geopolitik keinerlei Einfluss auf die Finanzmärkte gehabt. Schauen Sie, was für die Märkte von Bedeutung ist: Lieferketten und Energie. Die Lieferzeiten liegen im Bereich des Normalen, die Preise für die Schiffstransporte ebenfalls. Was die Energie betrifft: Auch dort sind derzeit keine Abnormalitäten zu beobachten. Daher muss ich konstatieren: Diese Risiken für Investitionen wurden bisher eingedämmt.
Bedeutet das, dass wir auf ein gutes Börsenjahr zusteuern?
Ich gehe davon aus, dass die Weltwirtschaft weiter wachsen wird. Ich glaube auch, dass die Inflation unter Kontrolle bleiben wird. Und ich denke, die Zentralbanken werden die Zinsen weiter senken. Weiter gehe ich davon aus, dass sich die amerikanische Wirtschaft besser als die anderen entwickeln wird.
Wird Europa nicht unter dem Krieg in der Ukraine zu leiden haben?
Als Bürger tut es mir leid, das so hart ausdrücken zu müssen. Aber als Investor komme ich zum Schluss: Dieser Krieg hat nur sehr moderate Auswirkungen auf die Weltwirtschaft.
Wie beurteilen Sie die Lage der Schweiz in der neuen Weltordnung?
Interessanterweise hat sich die Schweiz teilweise daran angepasst. Bisher war Deutschland das wichtigste Exportland für uns. Inzwischen sind es die USA. Auch zu China sind wir ein bisschen auf Distanz gegangen. Der Schweiz geht es okay, die Wirtschaft wird auch nächstes Jahr zwischen 1 und 1,5 Prozent wachsen.
Alles im grünen Bereich?
Nicht alles ist perfekt. Wir haben einen Überfluss an Spargelder und könnten ein bisschen mehr investieren, vor allem in Innovation, Infrastruktur, Energie und in die Verteidigung. Generell sollten wir uns mehr an den USA als an Deutschland orientieren.
Und zum Schluss: Was heißt das für mich als Kleininvestor?
Es ist nicht die Zeit, um zurückhaltend zu sein. Die Dinge bewegen sich, damit eröffnen sich auch Chancen. Generell empfiehlt es sich, Aktien von guten Unternehmen in den richtigen Ländern und Sektoren zu kaufen. Die USA werden weiterhin dominieren. Auch die Renditen der Staatsanleihen sind – außer der schweizerischen – wieder attraktiver geworden. In der Schweiz ist es sinnig, einen Teil der Investitionen in den Mietwohnungssektor zu leiten.