watson: Passen Demokratie und Kapitalismus zusammen, Herr Butterwegge?
Christoph Butterwegge: Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus. Gerade wenn man unter Demokratie mehr versteht, als alle vier oder fünf Jahre eine Wahlurne aufzusuchen.
Wie meinen Sie das?
In einer repräsentativen Demokratie müssen alle Bevölkerungsschichten gleichermaßen an den politischen Entscheidungsprozessen beteiligt sein. Im Kapitalismus gibt es jedoch Grenzen dieser Beteiligung, weil Arme seltener zur Wahl gehen, während sich Wohlhabende und Reiche beteiligen. Das sieht man an einem Kölner Vergleich: Dort lag die Wahlbeteiligung im Villenviertel Hahnwald schon mal bei 88,5 Prozent, im Hochhausviertel Meschenich hingegen gerade mal bei 24,5 Prozent.
Wieso gehen Arme seltener an die Urne als Reiche?
Viele Arme haben das Gefühl – im Übrigen nicht völlig grundlos – dass ihre Interessen von den etablierten Parteien nicht vertreten werden. Hinzu kommt, dass sie ganz andere Sorgen haben, als wählen zu gehen. Viele von ihnen wissen nicht, wie sie ab der Mitte des Monats den Kühlschrank füllen sollen. Reiche haben keine materiellen Sorgen und sind sich auch der Bedeutung einer Wahl bewusst. Sie haben zudem weitere Möglichkeiten, auf die Politik einzuwirken.
Inwiefern?
Ich denke an Parteispenden und Lobbytätigkeiten. Diese Möglichkeiten haben Arme nicht. Insofern sind Arme im Kapitalismus nicht wirklich gleichberechtigt.
Sie schreiben in ihrem Buch, die Ungleichheit ist so groß, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht: Woher kommt das?
In den vergangenen Jahrzehnten wurde der Sozialstaat stark abgebaut. Stichworte sind hier die Agenda 2010 oder die Hartz-Gesetze. Außerdem wurde der Arbeitsmarkt dereguliert, etwa der Kündigungsschutz gelockert oder die Leiharbeit liberalisiert. Mit Minijobs und befristeten Verträgen sind prekäre Beschäftigungsverhältnisse eingeführt worden. Hinzu kommt eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip.
Was sagt das aus?
Im Evangelium des Matthäus heißt es sinngemäß: 'Wer hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird auch das noch genommen.' Alle Steuern, die nur Reiche zahlen müssen, sind in der Vergangenheit entweder abgeschafft worden – wie die Gewerbekapital- und die Börsenumsatzsteuer – oder sie werden einfach nicht mehr erhoben wie die Vermögenssteuer seit 1997.
Reiche profitieren also vom Steuersystem?
Der Spitzensteuersatz lag unter Altkanzler Helmut Kohl (CDU) noch bei 53 Prozent, heute sind es 42 Prozent. Nur für ganz wenige Topverdiener gilt die sogenannte Reichensteuer von 45 Prozent. Auch die Kapitalertragsteuer auf Zinsen und Dividenden wurde für Spitzenverdiener von 53 Prozent auf pauschal 25 Prozent gesenkt. Dabei sind es gerade Dividendenzahlungen, die Reiche noch reicher machen.
Haben Sie ein Beispiel?
Klaus-Michael Kühne, der zweitreichste Deutsche, hat im vergangenen Jahr 3,3 Milliarden Euro Dividende allein aus seinen Hapag-Lloyd-Aktien bezogen. Weil er seinen Wohnsitz in der Schweiz hat, fallen darauf vermutlich keine Steuern an, aber auch sonst würde diese Gewinnbeteiligung lediglich mit 25 Prozent versteuert. Techniker, Ingenieure und Facharbeiter mit vielen Überstunden können hingegen auf den Spitzensteuersatz von 42 Prozent kommen. Das zeigt, wie ungerecht unser Land durch falsche Regierungspolitik geworden ist.
Sie fordern, dass Superreiche stärker besteuert werden und Arbeiter:innen entlastet.
Mit Bezahlkarten für Geflüchtete und Verschärfungen für Bürgergeld-Bezieher wird viel Druck auf marginalisierte Gruppen ausgeübt. Höhere Steuern für Reiche und große Konzerne werden aber nicht diskutiert. Im Gegenteil: Die FDP will die Körperschaftsteuer – also quasi die Einkommenssteuer von Kapitalgesellschaften – sogar von 15 auf 10 Prozent senken.
Sobald das Wort "Steuererhöhung" fällt, schlackert ein Großteil der Republik mit den Ohren. Warum haben Steuern einen so schlechten Ruf?
Niemand zahlt gern Steuern, obwohl sie das Lebenselixier unseres Gemeinwesens sind. Ohne sie gäbe es schließlich weder Straßen noch Schulen oder Krankenhäuser. Man sollte differenzieren, um was für Steuern es geht und wer sie bezahlen muss. So wird die Vererbung großer Vermögen kaum besteuert, insbesondere dann, wenn es sich um Firmen und Immobilien handelt.
In Ihrem Buch bezeichnen Sie den Neoliberalismus als Ersatzreligion. Wieso ist diese politische Ideologie problematisch?
Neoliberale vergöttern den Markt, anstatt den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Es geht um Erfolg in der Standortkonkurrenz und betriebswirtschaftliche Effizienz in allen Lebensbereichen, während Solidarität und Gemeinwohl keine Rolle spielen. Angeblich ist jeder seines Glückes Schmied.
Spaltet Neoliberalismus die Gesellschaft?
Neoliberale Politik vertieft die Kluft zwischen Arm und Reich. Dies führt dazu, dass der soziale Zusammenhalt schwindet und die Gesellschaft auseinanderdriftet.
Sie sagten, dass falsche Regierungspolitik schuld ist an der Situation. Was haben die demokratischen Parteien davon, Ungleichheit zu zementieren?
Sie spüren kaum Druck von unten, weil die Gewerkschaften geschwächt sind und sich – anders als zum Beispiel in Frankreich, wo Menschen wegen einer Rentenreform monatelang auf die Straße gehen – außerparlamentarisch wenig Widerstand regt. Wer über wirtschaftliche Macht verfügt, kann Druck auf politische Entscheidungsträger ausüben. Das reicht von der Drohung mit einer Verlegung des Firmensitzes bis zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung.
Das französische Streikrecht ist mit dem deutschen Richterstreikrecht allerdings nicht vergleichbar.
Dies hat viel mit dem Nationalsozialismus zu tun – und damit, dass die Arbeitsrechtler zum Teil nach 1945 dieselben waren, die schon vorher die Gesetze beeinflusst haben. Daher sind politische Streiks in Deutschland bis heute verboten.
Auch viele Vermögen stammen aus den dunkelsten Kapiteln Deutschlands. Wie demokratisch kann ein Land sein, wenn diese Vermögen unangetastet bleiben?
Die meisten großen Familienvermögen der Bundesrepublik sind bereits im Kaiserreich oder während des Nationalsozialismus entstanden. Ich halte aber etwas anderes für ein noch größeres Problem der Demokratie.
Und zwar?
Arme resignieren, statt zu rebellieren. Die Mittelschicht gerät wirtschaftlich unter Druck, was manche ihrer Mitglieder veranlasst, sich nach unten abzugrenzen und politisch nach rechtsaußen zu wenden. Und das Vermögen ballt sich bei wenigen Unternehmerdynastien zusammen. Ungleichheit ist Gift für die Demokratie. Politiker der etablierten Parteien kümmern sich aber nur um die Symptome, nicht um die Wurzeln des Problems.
Wie das?
Ihre Antwort auf mehr Eigentums- und Gewaltdelikte – selbst unter Kindern und Jugendlichen – ist eine Verstärkung von Polizei und Justiz. Wer glaubt, soziale Probleme auf diese Art in den Griff zu bekommen, wird scheitern.
Wie müsste die Republik umgebaut werden, um wirklich demokratisch zu sein?
Grundvoraussetzung ist ein inklusiver Sozialstaat. In eine solidarische Bürgerversicherung müssten alle einzahlen: auch Selbstständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete und Minister. Beiträge sollten auch auf Zinsen und Dividenden sowie Miet- und Pachteinnahmen erhoben werden. Wir brauchen einen höheren Mindestlohn, mehr Tarifbindung und ein gerechteres Steuersystem.
Müssen wir den Kapitalismus überwinden?
Man kann auch im Kapitalismus sinnvolle Veränderungen erreichen. Aber wer Armut mit Erfolg bekämpfen will, muss den Reichtum antasten. Und wer soziale Gleichheit verwirklichen will, muss den Kapitalismus infrage stellen.