Innerhalb von Wochen sollte die Ukraine vor dem russischen Militär in die Knie gehen. Zu groß sei Russlands Heer, zu mächtig das schwere Kriegsgerät. Zweieinhalb Jahre ist es her, dass praktisch die gesamte Fachwelt und die internationale Politik diese Fehleinschätzung traf. Im Winter 2024 stellt sich der Kreml auf einen weiteren schweren Winter auf den Schlachtfeldern in der Ostukraine ein.
Dabei könnte es bald noch schlimmer kommen, als Wladimir Putin und seine Generäle es zugeben möchten. Oberflächlich betrachtet, kommen die Russen aktuell gut voran. Immer weiter rücken die Truppen auf die Stadt Pokrowsk zu, immer neue Siedlungen erobern sie dabei.
Doch der Schein trügt. Denn im Schatten dieser kleinen lokalen Erfolge wächst ein großes strategisches Problem. Russland steuert nämlich auf einen verheerenden Materialengpass zu. Das zeigen Daten aus militärischen Open-Source-Kanälen.
Ins Auge fällt den Experten dabei vor allem das krasse Ungleichgewicht an Verlusten an der aktuell dynamischsten Front. Wie das Recherchenetzwerk Oryx jetzt bekanntgab, wuchs die Zahl eingebüßter Panzer im Kampfgebiet Pokrowsk auf 539 – in nur einem Jahr. Im selben Zeitraum wurden nur 92 ukrainische Panzer zerstört, aufgegeben, kampfunfähig oder erobert.
In einem noch größeren Missverhältnis stehen die verlorenen Kampffahrzeuge. 1020 Schützenpanzer, Militärtransporter und ähnlich Gefährte gingen auf russischer Seite verloren, während die Ukraine nur über 138 Verluste zu klagen hatten.
Die Daten ermittelten OSINT-Beobachter (Open Source Intelligence), wie ntv berichtete, ausschließlich anhand von Bild- und Videomaterialien, die in öffentlich zugänglichen Internetforen zu finden waren. Auf beiden Seiten dürfte die Dunkelziffer dementsprechend deutlich höher liegen.
Die gewaltigen Verluste stehen dabei in einem ungesunden Verhältnis zu dem eroberten Terrain. Gegen die starke ukrainische Gegenwehr gelangen im Laufe des vergangenen Jahres laut Institut für Kriegsstudien (ISW) nämlich nur 40 Kilometer Geländegewinn. Von der moralisch und strategisch bedeutsamen Stadt Pokrowsk, die Putin schon vor langer Zeit ins Visier genommen hat, trennt Russland immer noch rund 15 Kilometer.
Nach Einschätzung des ISW bedeutet das eine neue Verschärfung der Schwierigkeiten aufseiten des russischen Militärs. Demnach stößt "die russische Rüstungsindustrie an ihre Grenzen". Ein Kernproblem sei es, dass es "dem russischen Militär nicht gelungen ist, durch mechanisierte Manöver operativ bedeutsame territoriale Fortschritte zu erzielen."
Noch immer zehrt das russische Militär von Waffen und Material aus der Sowjetzeit, wie das ISW erklärte. Sind diese erst erschöpft, könnte Russlands Kriegsführung einen weiteren empfindlichen Schlag erhalten. Denn die Rüstungsindustrie kommt bereits jetzt dem hohen Bedarf an Munition und militärischem Gerät nicht hinterher.
Auch die Ukraine kämpft weiter mit Materialengpässen. Den Truppen von Präsident Wolodymyr Selenskyj ist es aber in den vergangenen zweieinhalb Jahren gelungen, trotz des Mangels effektiv Gegenwehr zu leisten.
Dabei hat sie die Strategie perfektioniert, den russischen Truppen möglichst große Verluste zuzufügen, bevor Stellungen und Städte aufgegeben werden. Kiews Taktik beschrieb die "New York Times" mit dem Schlagwort "Raum gegen Verluste".
Russland, das oft mit größerer Mannstärke und schwerem Gerät anrückt, geht den auf Schadenmaximierung konzentrierten Ukrainern demnach immer wieder in die Falle. Währenddessen gelingt es Kiew zusehends, eigene Truppen und Zivilisten durch Hinhaltetaktiken vor den russischen Vorstößen in Sicherheit zu bringen.