Ich konnte meinen Kaffee nicht genießen. Neben mir saß ein älterer Mann mit löchriger Jeans und einem karierten Hemd. Immer wieder strich er sich nervös über seinen Schnurrbart, dann wanderte seine Hand zur Hüfte. Dort hing an einer Schnalle sein Schießeisen. Er wippte mit dem Bein und starrte in die Runde.
Das Diner war gut besucht. Die Menschen lachten, aßen ihre Burger und waren in ihre Gespräche vertieft. "Was ist, wenn er jetzt durchdreht?", fragte wohl nur ich mich in diesem Moment. Eine Frage, die ich mir während meines dreijährigen Aufenthalts in den USA noch oft stellen sollte. Denn Verrückte gibt es schließlich überall. Aber in den Vereinigten Staaten gibt es Verrückte mit Waffen – völlig legal.
Es ist ein Erlebnis, wenn man an einem schönen Tag am Strand mitten auf dem Steg einem sichtlich betrunkenen Mann über den Weg läuft, der Badegäste – darunter auch Kinder – anschreit. In der Sonne glänzt das Metall an seinem Gürtel: eine schicke Waffe. Man läuft mit dem Blick zu ihm rückwärts davon und hofft, es nicht Knallen zu hören. Im Hintergrund jaulen bereits die Sirenen der Polizei.
In Savannah, im Bundesstaat Georgia, laufen die Dinge etwas anders als in Europa – obwohl die Stadt als liberal gilt. Einige Amis amüsierten sich über meine "German Angst". Für die meisten in den Südstaaten ist all das normal: Waffen sind hier etwas Alltägliches.
Am besten beginnt man so früh, wie möglich das Herumballern zu lernen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Kinder mit sieben oder acht Jahren das Handwerk lernen. Sie müssen schließlich wissen, wie man auf die Jagd geht – und sich zur Not verteidigen kann. Wovor? Etwa vor Menschen, die in Schulen eindringen und ziellos auf alles schießen, was sich bewegt?
In den USA läuft etwas wahnsinnig schief: Eine Massenschießerei folgt der anderen. Eltern, Demokrat:innen und Aktivist:innen schreien sich die Hälse wund: Es sind die Waffen!
Doch das andere Lager stellt sich taub. Es scheut sich vor schärferen Waffengesetzen. "Nicht ohne meine Waffe!", klammern sie sich an ihre Metalldinger. Im Land der unbegrenzten Freiheit habe jeder Mensch das Recht auf eine Knarre: Egal, ob die Person damit umgehen kann oder nicht.
Laut der Organisation "USCCA" wird in 50 Prozent des Landes keine Lizenz für den Waffenbesitz benötigt. Sprich, in einigen Staaten kann jede:r eine geladene Handfeuerwaffe in der Öffentlichkeit tragen – lizenzfrei. Die Person muss sich keinem Background-Check unterziehen oder irgendeine Art von Schusswaffentraining vorweisen.
Stolz prahlen die Patriot:innen: Niemand traue sich, die USA anzugreifen, weil die Zivilbevölkerung bis an die Zähne bewaffnet sei. Auch heißt es immer, man müsse sich gegen die eigene Regierung wehren können – zur Not mit Waffengewalt.
Überhaupt nicht gefährlich also, wie momentan Ex-Präsident Donald Trump seine Anhänger für die Wahl 2024 "anheizt". Er spricht von der "letzten Schlacht". Flaggen mit dem Slogan "Trump oder Tod" lassen nur erahnen, was den USA bei seiner Wahlniederlage blühen könnte. Der Sturm auf das Kapitol war demnach vielleicht nur ein Vorgeschmack dessen, was noch kommt.
Trumps engste Verbündete Marjorie Taylor Greene ruft immer wieder zur Spaltung der USA auf – die große Scheidung – von Republikanern und Demokraten. Solche Parolen sind brandgefährlich, wenn das halbe Volk bewaffnet ist.
Die USA sind laut Studien das einzige Land weltweit, in dem es mehr Waffen als Einwohner:innen gibt. Im Land der unbegrenzten Freiheit leben weniger als fünf Prozent der Weltpopulation, und dennoch sind die USA Weltmeister beim zivilen Waffenbesitz. Das zeigt die Recherche der Journalistin Jess Natale und Gründerin von "so.informed".
Abgesehen von den fatalen Folgen eines möglichen Bürgerkrieges, zeichnet sich bereits ein Fakt heraus, bei dem längst die Alarmglocken schrillen sollte: Waffengewalt ist die Todesursache Nummer eins bei Kindern unter 18 Jahren in den USA. Mehr als 1300 Minderjährige wurden 2023 bereits durch Waffengewalt verletzt oder getötet.
Waffen sind kein Spielzeug, das man einfach so verteilt. Das sehen allerdings die Republikaner anders. Dabei lieben sie Verbote. Gerade in den konservativen Südstaaten (auch als Bibel-Gürtel bekannt) geht es streng zu: kein Alkohol in der Öffentlichkeit trinken und sonntagmorgens Verkaufsverbot von Alkohol in den Supermärkten. Am besten keinen Sex vor der Ehe haben, Verhütung soll es gar keine geben. Wenn ein Teenager durch sexuelle Gewalt schwanger wird, hat sie das Kind gefälligst auszutragen – und warte erst ab, wenn du schwul oder lesbisch bist, dann ist die Hölle los! Aber eine Waffe? Die darf jede:r überall tragen? Die meisten Republikaner sagen: ja.
Während die Kinder in ihren Schulen erschossen werden, predigen die Republikaner: "Schützt unsere Kinder" – vor der LGBTQ-Agenda und Transgender*Personen. Aber die Waffengesetze bleiben so wie sie sind. Die Waffenlobby lässt die Korken knallen.
Deshalb verwundert es auch nicht, wie sich der Republikaner Andy Ogles auf seiner Weihnachtskarte mit seiner Familie präsentiert. Er vertritt den Bezirk in Nashville, wo vor Kurzem wieder eine Schießerei an einer Privatschule drei Kinderleben kostete.
Laut der "Zeit" wollen Republikaner jetzt offenbar Feuer mit Feuer bekämpfen und Lehrer:innen bewaffnen. Es gibt außerdem bereits schusssichere Fluchträume an Schulen. Symptome bekämpfen, Ursachen verdrängen. Immerhin schicken sie immer ihre Gebete an die Opfer und Hinterbliebenen. Aber es muss endlich mehr geschehen.
Wie viele tote Kinder braucht es, dass sich etwas in den waffenvernarrten Herzen der Amis regt? Freiheit bedeutet das Recht auf ein sicheres Leben. Wenn die Freiheit über Kinderleichen geht, dann ist es egoistischer Wahnsinn – finanziert und unterstützt durch eine skrupellose Waffenlobby. Amis, kriegt endlich eure Waffengesetze in den Griff – für die Zukunft des Landes: eure Kinder.
Waffengewalt ist für die Generation Z in den USA ein wichtiges Thema. Sie gelten als die "school shooter generation" aufgrund der immer wieder auftretenden Amoktaten an Schulen. Aber nicht nur dort, sondern auch daheim in ihren eigenen vier Wänden sind sie der Waffengewalt ausgesetzt.
Kleinkinder, die ihre Geschwister abknallen, weil die Eltern die Waffe ungeschützt herumliegen lassen. Betrunkene Ehemänner, die auf ihre Frau und Kinder schießen. Eifersüchtige Teenager, die im Streit die Waffe auf ihre Partner richten. Vorfälle, die zur Normalität werden.
Ein Polizist aus Savannah sagte mir einmal: Es ist wie eine Pandemie. Es tötet unsere Kinder. Nicht Verkehrsunfälle, Krebs oder andere Krankheiten, es sind die Waffen – oder wohl eher die losen Waffengesetze.