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Friedrich Merz ruft zu Optimismus auf – Zeit für Proteste und Wut!

01.10.2025, Dänemark, Kopenhagen: Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) kommt zu einem informellen Gipfel im dänischen Parlament auf Schloss Christiansborg in Kopenhagen. Foto: Thomas Traasdahl/Ritzau Sc ...
Sieht selbst nur selten optimistisch aus: Bundeskanzler Friedrich Merz.Bild: Ritzau Scanpix Foto/AP / Thomas Traasdahl
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Merz fordert mehr Lebensfreude – wir brauchen aber mehr Wut

Friedrich Merz fordert gute Laune – als wäre Optimismus ein politisches Allheilmittel. Doch wer das Glas halb voll sehen soll, obwohl es leer ist, wird irgendwann wütend. Und genau das braucht dieses Land: weniger Gluckersprech, mehr Geschrei. Ein Plädoyer für Protest statt Phrasen.
01.10.2025, 18:4401.10.2025, 18:44

Ich bin angepisst. Du bist angepisst. Wir alle sind es – mal mehr, mal weniger, mal aus diesem Grund, mal aus jenem. Angepisst sein ist menschlich. Bundeskanzler Friedrich Merz will aber keine schlechte Laune, keine "Larmoyanz", kein "Wehleidigsein", er will eine positive Lebenseinstellung.

Wirklich gute Laune machen derlei Aussagen nicht. Wer sagt, das "Glas sei halb voll" (Merz et al.), kriegt den Inhalt meist ins Gesicht. Natürlich eröffnet sich dadurch eine Frage mit "Spiegel"-Bestsellerpotential: "Ist Deutschland zu wütend?"

Um die Antwort vorwegzunehmen: Noch lange nicht. Weniger Konsensfetisch, weniger Harmoniebedürftigkeit, allen voran aber weniger Akzeptanz gegenüber optimismusgefütterten Worthülsen ist das, was die Gesellschaft wirklich brauchen könnte. Deshalb: Mut zu mehr Wut.

Merz kommt mit AfD-Drohung – und begreift mal wieder nichts

Stimmen wir uns erst mal ein und bringen das Blut in Wallung. Dafür reicht es, Merz' Gute-Laune-Rede zu dekonstruieren. Die trug er mit gewohntem Gluckersprech dem Wirtschaftsflügel seiner Partei vor. Es war kein Appell an seine Mecker-Partei, es war eine Botschaft ans Staatsvolk – hübsch verpackt mit einer AfD-Drohung: "Glaubt ihr, es wird mit denen besser?"

Das Problem: Wer Kritik kleinredet, verkennt ihre Ursache. Und genau das macht Merz – und damit öffnet er den Rechten Tür und Tor. Denn eigentlich sollte klar sein: Die Leute wählen die in weiten Teilen rechtsextreme AfD, weil diese sich selbst von den anderen Parteien distanziert. Sie ist quasi der dritte Akteur zwischen Opposition und Regierung. Zu sagen, mit denen wird es nicht besser, können Anhänger:innen mit "Wer weiß das schon?" kontern.

Hier sollte Wut aufkommen. Vielleicht könnte sich der Kanzler mit sozioökonomischen Ursachen für die AfD-Wahlentscheidung auseinandersetzen. Abstiegsängste kultivieren einen Rechtsruck. Drohgebärden, Optimismus-Aufrufe und Hände-spuck-Rhetorik eignen sich kaum als Mittel dagegen.

Warum von Parteien nicht viel zu erwarten ist

Die Sorgen werden natürlich bedingt durch stagnierende Löhne, durch Angriffe auf den Sozialstaat, durch explodierende Mieten und Steuererleichterungen für Unternehmen. Grüne, SPD, FDP, Union, AfD – keine dieser Parteien verbessert und verbesserte ernsthaft die Lebensbedingungen der Deutschen.

Nur aus der Opposition heraus dröhnen Verbesserungsvorschläge, zum Beispiel von den Linken, aber auch den Grünen. Letztere sind aber kaum glaubwürdig, wenn sie Forderungen wie "bezahlbare Mieten" während ihrer Ampel-Zeit selbst nicht einbrachte, geschweige denn durchsetzte.

Dass es so lief, lag aber vor allem an den Notwendigkeiten, an die ein Staat gebunden ist. Die Ursachen liegen ergo tiefer – nicht nur bei Merz, nicht nur bei dieser Regierung, sondern im System. Wachstum – hinsichtlich Wirtschaft und Bevölkerung, so funktioniert eine kapitalistische Welt. Den meisten Regierungen schwebt dafür eine Politik vor, die vor allem Unternehmen und Unternehmer:innen entlastet. Das ist eben die vorherrschende wirtschaftliche Denkschule.

Können wir uns also nicht wehren? Bleibt nur noch die AfD? Oder vielleicht doch die Linke? Nein, nein und naja. Erst mal: Linke und AfD müssen sich dem staatlichen Wettbewerb hingeben wie alle anderen Parteien auch. So ist es nun mal, wenn man regieren will.

Die AfD wird aber nichts gegen Abstiegsängste unternehmen, vielmehr sie verschlimmern; die Linke könnte das Leben in einem kapitalistischen System zumindest ein wenig verbessern.

Es braucht große Veränderungen, keinen Optimismus

Doch ein wenig reicht nicht. Probleme werden die Parteien nicht an ihrer Ursache bekämpfen, sprich dem Wachstumszwang kapitalistischer Staaten. Linderung schafft die Probleme nicht aus der Welt, sondern macht sie zeitweise erträglich – bis sich das Ganze wiederholt.

Deshalb braucht es Wut und nicht Optimismus, den Merz ja aus den USA importieren will. Merz hat recht, wir sollten was aus den USA importieren: die Wut. In diesem Jahr gab es unzählige Proteste. Solche, in denen sich Gruppen aus den unterschiedlichsten Milieus gegen Trumps Abschiebepolitik, gegen Musk und Trumps Vorgehen, gegen die Militärparade, gegen seine Angriffe auf die Verfassung wehrten.

Die USA nutzen ihre Wut für Proteste, das könnten wir auch tun, also deutlich mehr. Hierzulande sind wir noch zu zaghaft. Eine Petition schreiben? Das ist genauso hilflos wie die Steuererklärung vorm Reichstag verbrennen. Stattdessen müssen sich die Menschen organisieren – in ihrer Nachbarschaft, in Verbänden, in bundesweiten Netzwerken.

Sie müssen rausgehen, müssen brüllen, müssen Plakate hochhalten, sollten sich nicht einschüchtern lassen. Und damit sind nicht nur Demos gegen Rechts gemeint, sondern gegen Regierungen, aber auch gegen Unternehmen, die zwecks Kürzungspolitik Tausende Menschen auf die Straßen setzen.

Wut in Deutschland: Organisiert euch!

Es braucht Proteste gegen diejenigen, die am längeren Hebel sitzen, die über die Produktionsmittel verfügen, während andere ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, und alle anderen, die diesen Zustand erhalten. Da hilft auch ein Blick nach Frankreich: Dort schreien sie lauter, blockieren Straßen, legen das Land lahm – und werden gehört.

Vielleicht bringt die kanalisierte Wut keinen Systemwandel. Aber zumindest kann sie mehr bewegen, als aufgezwungener Optimismus. Und genau das braucht dieses Land: weniger Gluckersprech, mehr Geschrei.

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