Ricarda Lang und Omid Nouripour wurden am Freitag in ihren Ämtern als Bundesvorsitzende der Grünen bestätigt.Bild: imago images / Chris Emil Janßen
Nah dran
Es ist Donnerstag, der 23. November, 17 Uhr. Es ist winterlich kalt draußen in Karlsruhe, der Wind pfeift und die Messehalle füllt sich langsam. Drinnen ertönt plötzlich:
"Yes (woo, ow)
It's so crazy right now
Most incredibly, it's ya girl, B (yes)
It's ya boy, Young
You ready?
Uh oh, uh oh, uh oh, oh, no, no (ow)".
Der Song "Crazy in Love" von Beyoncé aus dem Jahr 2003.
Die Grünen haben zum Parteitag geladen. Es soll einer der größten und längsten Bundesdelegiertenkonferenzen in der 43-jährigen Geschichte der Partei werden. Rund 5000 Mitglieder und 1700 Gäst:innen wurden erwartet. Aus der Karlsruher Stadthalle, in der sie sich 1980 gegründet haben, sind sie rausgewachsen. Die große Messehalle muss nun herhalten.
Neuer und alter Bundesvorsitzender Omid Nouripour läuft für seine politische Rede auf die Bühne, lässt sich beinahe feiern wie ein Popstar und kassiert während seiner Rede mehrfach Standing Ovations.
"Keine politische Kraft hat dieses Land so verbessert, wie Die Grünen in den letzten 43 Jahren", heizt er die Stimmung an.
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Was im Laufe des Parteitags deutlich wird: Die Grünen feiern sich. Die Basis steht hinter ihrer Spitze. Das zeigen auch die Wahlen des Bundesvorstandes. Omid Nouripour wurde am Freitag mit 79 Prozent wieder in den Vorsitz gewählt; Ricarda Lang sogar mit 82,3 Prozent.
Damit hielten die beiden ihre Zustimmungswerte weitestgehend zur vorherigen Wahl 2021. Lang erneut ohne Gegenkandidat:in, Nouripour trat gegen Philipp Schmagold an – der allerdings nur 12 Prozent der Stimmen gewinnen konnte.
"Dieses Land braucht Herz gegen Merz", hat sich Nouripour in Rage geredet. Dann würde es auch mit der Demokratie klappen, und damit, dass Nazis in die Schranken gewiesen werden.
Von Selbstkritik fehlt auf diesem Parteitag jede Spur. Stattdessen ist Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) offensichtlich Hauptgegner Nummer 1. Dabei müssten sich die Grünen sehr wohl auch an die eigene Nase fassen.
"Mehr Herz gegen Merz" statt Schuldgefühlen und Einsicht
Dass die Ampel in der Krise steckt, ist bekannt. Nach der Corona-Pandemie musste die Bundesregierung auch mit den Auswirkungen des völkerrechtswidrigen Angriffs des Kremls auf die Ukraine umgehen, mit Inflation, dem erneuten Krieg in Nahost – und einer Asyldebatte, wie es sie seit 2015 nicht mehr gab.
Die Krise gipfelte jüngst im vermasselten Nachtragshaushalt der Bundesregierung für 2021.
CDU-Chef Friedrich Merz: aktuell der Hauptfeind der Grünen.Bild: imago images / Arnulf Hettrich
Zur Erinnerung: Der Bundestag beschloss Ende 2020 für das Haushaltsjahr 2021, dass 180 Milliarden Euro an neuen Schulden aufgenommen werden dürften. Im April 2021 gab es nochmal eine Aufstockung um 60 Milliarden Euro. Die wurde dann jedoch nicht mehr gebraucht.
Im Februar 2022 wurden diese Mittel – schon unter der damals neuen Ampelregierung – umgewidmet und in den Energie- und Klimafonds übertragen. Inzwischen heißt er Klima- und Transformationsfonds.
Es stellte sich heraus: Dieser Vorgang war verfassungswidrig. Friedrich Merz' Unionsparteien zogen dafür vor das Karlsruher Verfassungsgericht, das gab ihnen Recht.
Deshalb haben sich nun die Parteimitglieder der Grünen auf Merz als Hauptfeind eingeschossen. In etlichen Reden fand er einmal Erwähnung, Nouripour ebnete mit seinem "Herz statt Merz" am Donnerstag den Weg für den neuen Schlachtruf der Grünen: "Mehr Herz gegen Merz", schworen sich die Mitglieder ein.
"Wir sind ein Rechtsstaat, Herr Merz, haben Sie das etwa vergessen?", tönte es etwa. Auch Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck schlug in dieselbe Kerbe, als er die CDU so zusammenfasste: "Eine Partei von gestern, angeführt von einem Vorsitzenden von vorgestern. Das ist die Krise des Konservatismus."
Dabei wurde allerdings vergessen, dass Friedrich Merz genau davon in Sachen Nachtragshaushalt Gebrauch machte. Denn nicht etwa Merz ist schuld, dass Karlsruhe den Schattenhaushalt gekippt hat, sondern die Ampelparteien – und damit auch die Grünen. Schließlich haben sie es versäumt, den Fonds auf sichere Füße zu stellen.
Statt sich aber für ihre schlampige Arbeit zu entschuldigen, schaffen es die Bundesminister:innen und der Vorstand der Grünen auf dem Parteitag, ihre Mitglieder hinter sich zu vereinen. Aus ihren Reihen hört man nur positive Worte über die Einigkeit ihrer Partei. Grünen-Geschäftsführerin Emily Büning sagte etwa im Gespräch mit watson, sie nehme die Partei als sehr geeint und geschlossen wahr.
Grüne: Zwischen Einigkeit gegen Merz und Migrations-Zwist
Nicht allerdings beim Thema Asyl und Migration. Die Grünen tragen unter anderem die Reform des GEAS, Gemeinsames Europäisches Asylsystem, mit. Eine Tatsache, die vielen in der Partei nicht gefällt. Denn damit könnten Grenzverfahren und Inhaftierungen von Schutzsuchenden an den EU-Außengrenzen drohen. Der Schutz von Asylsuchenden und die Entkriminalisierung der Seenotrettung sind eigentlich Kernanliegen der Grünen.
Ein Zwist, auf den die Grünen-nahe Jugendorganisation Grüne Jugend mit ihrem Antrag zur Asyl- und Migrationspolitik hinweisen will. Sie fordern, keinen weiteren Asylrechtsverschärfungen zuzustimmen. Heißt: Handfesseln für die Grünen-Minister:innen in Asylrechtsfragen und damit wichtige Verhandlungspositionen aufgeben in den derzeitigen Fragen.
"Wenn man Teil der Regierung ist, kann man nicht nur mit dem Finger auf andere zeigen", gibt Grüne-Jugend-Co-Vorsitzende Katharina Stolla am Samstagabend zu verstehen. Vor allem, wenn man selbst an den härtesten Asylrechtsverschärfungen seit 30 Jahren beteiligt sei.
Das sieht Omid Nouripour allerdings anders. Denn ein modernes Einwanderungsland bräuchte auch ein konkretes Einwanderungsgesetz, machte er in seinem Einbringungsantrag dazu deutlich. Dem stimmen seine Mitglieder offenbar zu. Standing Ovations.
Die Messehalle ist aufgeheizt. Vier Tage lang dauert der Parteitag der Grünen insgesamt. Europaparteitag und Bundesparteitag wurden in diesem Jahr zusammengelegt. Die Mitglieder debattieren bis spät in die Nacht – doch der Stimmung tut das keinen Abbruch. Und sie gipfelt offensichtlich in dieser Diskussion am Samstagabend.
Es stehen sich zwei Fronten gegenüber: der Bundesvorstand der Grünen und ihr linker Jugendverband. Die einen wollen der Parteispitze ihr Vertrauen aussprechen in Asylrechtsfragen, den anderen, der Grünen Jugend, ist das Zustimmen zu GEAS oder Moldau und Georgien als Sichere Herkunftsstaaten nicht grün genug.
Robert Habeck setzte am Samstag alles daran, die Partei auch in Asylfragen hinter sich und Annalena Baerbock zu vereinen.Bild: imago images / Chris Emil Janßen
Robert Habeck macht jedoch die Schwere der Debatte deutlich: Sollte dem Antrag der Grünen Jugend zugestimmt werden, bedeutet das auch, dass die Grünen die Regierung verlassen müssten. Denn, dürften die Grünen bei keinen Asylrechtsfragen mehr mitreden, ließe sich dies nicht mehr mit einer Regierungsarbeit vereinbaren.
David gegen Goliath. Immer wieder versuchen einige Grüne, die offenbar unüberbrückbaren Differenzen innerhalb ihrer Partei zu kitten. Sie werben für Einigkeit. Ob das gelingt, wird sich erst noch zeigen.
Doch dass die Partei hinter ihrem Vorstand steht, wird auch hier wieder deutlich: Der Antrag der Grünen Jugend – während der Reden noch bejohlt und bejubelt – wurde abgelehnt.
Der Parteitag macht aber noch etwas anderes, abgesehen vom Vertrauen in die Partei-Spitze, deutlich: Die Grünen stecken zwischen Diskussionen um den Bundeshaushalt und der Asyldebatte, die die Partei beinahe entzweit, fest.