Politik
Russland

Kursk: Zurückgelassene Zivilisten bei Evakuierung von Kriegsgebiet in Russland

A woman evacuated from a fighting between Russian and Ukrainian forces in Kursk region chooses clothes at a temporary residence center in Kursk, Russia, Monday, Aug. 12, 2024. (AP Photo)
Eine junge Frau sucht im Zeltlager nach ihrer Evakuierung aus Kursk nach Klamotten.Bild: AP
Russland

Verlassene Zivilisten und ein Alkoholverbot: So läuft die Evakuierung in Kursk

14.08.2024, 15:47
Mehr «Politik»

Seit Tagen verharren ukrainische Truppen hartnäckig auf russischem Staatsgebiet und attackieren gezielt Militär und Infrastruktur. Mit Luftschlägen und Drohnenattacken auf eigenem Territorium versucht Russland die Eindringlinge wieder loszuwerden. In den ersten Tagen des ukrainischen Vorstoßes versuchte der Kreml mit Meldungen getöteter Feinde, die Lage unter Kontrolle zu halten. Dann musste Putin Massenevakuierungen anordnen.

In der attackierten Region Kursk und im benachbarten Belgorod rief die Staatsführung den Ausnahmezustand aus. Im Zuge dessen sollen laut "Kyiv Post" insgesamt rund 194.000 Zivilisten aus den betroffenen Grenzregionen umquartiert werden. Während die Staatsmedien über erfolgreiche Evakuierungen berichten, klagen betroffene Russ:innen über die mangelhafte Organisation.

Evakuierung aus Kriegsgebiet: 194.000 Russen sollen fliehen

Auf dem Kurznachrichtendienst X mehren sich derweil Posts, die die Lage innerhalb der Krisenregion schildern. Demnach hat Moskau die Lage alles andere als im Griff. Zwar wurden von den angepeilten 194.000 Menschen nach offizieller Darstellung 121.000 evakuiert. Damit soll knapp ein Viertel der Anwohner:innen in der Grenzregion umquartiert werden. Eine Mammutaufgabe für die Behörden, die bereits vom Vorstoß komplett überrumpelt wurden.

"Als wir ankamen, war der Zug bereits weg. Man hat uns im Stich gelassen."
Russische Zivilistin

Busse und Züge sollten den Großteil der Menschen in Kursk und Belgorod abtransportieren. Eine ältere Frau mit körperlichen Einschränkungen schildert nach ihrer Flucht die traumatischen Ereignisse in einem Clip auf X: "Ich kann nicht sagen, wie furchterregend es ist." Mit einer größeren Gruppe habe sie am Bahngleis gewartet, vergeblich. Denn: "Als wir ankamen, war der Zug bereits weg. Man hat uns im Stich gelassen."

Russische Behörden überfordert: Zivilisten kritisieren Politiker

Als sie den Notruf wählte, sagte ihr die Polizei schlicht: "Lauft weg, sofort!" Schließlich sei sie in einem überfüllten Bus entkommen, der Kinder, Frauen, Senior:innen und Menschen mit körperlicher Beeinträchtigung abtransportierten. Im Aufnahmelager angekommen sagte die Frau dem Video: "Unsere Bezirksvorsteherin ist eine Schurkin, eine richtige Schurkin."

Videos, die auf X trenden und nicht unabhängig bestätigt sind, zeigen Tausende von Menschen, die sich zusammendrängen, um auf einen der Züge für die Evakuierung tiefer ins Staatsgebiet zu warten. Seit dem Bombenkrieg in Tschetschenien Anfang der 2000er-Jahre mussten nicht mehr so viele Menschen innerhalb Russlands fliehen. Bei der Evakuierungsmaßnahme handelt es sich um die größte koordinierte Umquartierung seit dem Zweiten Weltkrieg.

"Er ist total betrunken. Russland wie immer"
Ukrainische Soldaten treffen auf verlassenen Zivilisten

Vermehrt tauchen auch Videos vom ukrainischen Militärs auf, die durch scheinbar ausgestorbene Dörfer in Kursk marschieren und dabei zurückgelassene Russ:innen antreffen.

In einer Kleinstadt nahe der Grenze stießen Truppen etwa auf einen volltrunkenen Russen, der die Soldat:innen mit dem ukrainischen Kampfruf "Slava Ukraini" willkommen hieß. "Er ist total betrunken. Russland, wie immer", kommentiert ein Soldat. Das Video wurde vom renommierten estnischen Kriegsblogger WarTranslated verbreitet.

Ausnahmezustand und Alkoholverbot

Bereits am Samstag hatte der Regionalgouverneur Alexei Smirnow die Lokalvorsteher der betroffenen Distrikte dazu aufgerufen, die Evakuierungsmaßnahmen zu beschleunigen. Seitdem konnten sich ukrainische Truppen noch tiefer ins russische Territorium vorarbeiten, laut Kiew sollen mittlerweile 74 Gemeinden unter ukrainischer Kontrolle stehen. Die Evakuierungsmaßnahmen könnten eine weitreichende Bombenkampagne vorbereiten.

Watson ist jetzt auf Whatsapp
Jetzt auf Whatsapp und Instagram: dein watson-Update! Wir versorgen dich hier auf Whatsapp mit den watson-Highlights des Tages. Nur einmal pro Tag – kein Spam, kein Blabla, nur sieben Links. Versprochen! Du möchtest lieber auf Instagram informiert werden? Hier findest du unseren Broadcast-Channel.

Um die Kontrolle nicht vollkommen zu verlieren, wurde zudem angeordnet, die Einfuhr und den Verkauf von Alkohol in acht Distrikten in Kursk zu unterbinden. Betroffen sind davon alle Distrikte, in denen die Evakuierung angeordnet wurde. Offenbar sollen vor allem die Männer dadurch zur freiwilligen Abreise überzeugt werden.

Russia Belgorod Evacuees 8742376 12.08.2024 Civilians gather at an evacuation point set up to transport residents from the Krasnoyaruzhsky district, in Belgorod region, Russia. Some 11,000 residents o ...
Großes Gedränge in Belgorod: Tausende Anwohner werden evakuiert.Bild: IMAGO/SNA

Ein Sprecher der Verwaltung von Kursk erklärte am Sonntag: "Die Situation ist sehr turbulent und das Verbot ist notwendig, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten und die Lage vor einer weiteren Destabilisation zu schützen."

Belgorods Gouverneur Vyacheslav Gladkov beschrieb die Lage in seiner Region in dramatischen Worten: "Die Situation in Belgorod bleibt extrem schwierig und angespannt aufgrund des Beschusses durch ukrainische Truppen." Demnach beklagt die Zivilbevölkerung Tote, Verletzte und zerstörte Häuser und Infrastruktur. Gladkov rief dazu auf, den Ausnahmezustand auf nationale Ebene auszuweiten.

Auch in der benachbarten Region könnten bald intensivere Kämpfe anstehen. Der Gouverneur der Region Kursk warnte die verbliebenen Einwohner laut BBC vor Raketenangriffen und rief sie auf, in fensterlosen Räumen mit stabilen Wänden Schutz zu suchen.

Ukraines neue Geheimwaffe: Hybrid-Drohne reicht tief ins russische Hinterland

Auch nach zweieinhalb Jahren Krieg in der Ukraine erhellt kein Hoffnungsschimmer die Friedenswünsche von Bevölkerung und Beobachtern. Während russische Raketenangriffe am Wochenende wieder in Kiew, Charkiw und im aktuell umkämpften Sumy für Tote, Verletzte und Zerstörung sorgten, legte auch die Ukraine in der Abteilung Attacke nach.

Zur Story