Wie ein Foto das Sportjahr 2018 veränderte – der Fall Özil in 11 Akten
29.12.2018, 18:2929.12.2018, 18:29
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Fußball hat viel mit Politik zu tun. Die Affäre um die Erdogan-Fotos
von Mesut Özil und Ilkay Gündogan machte viele dieses Jahr ähnlich wütend wie das WM-Scheitern. Der ganze Streit darum gab schmerzhafte Einblicke in deutsche Befindlichkeiten im Jahr 2018.
Das Drama um Mesut Özil hätte auch
William Shakespeare ausreichend Stoff für ein Schauspiel
geboten. Ein Skandal um ein Foto, Eitelkeiten und Enttäuschungen,
viele Missverständnisse, ein gefallener Liebling der Massen, drei
(ungekrönte) Regenten, ein ungeschickter Fußball-Präsident und der
bis heute ungeklärte Einfluss einer Frau – das ist der Rahmen
für ein unwürdiges Spektakel, das an einem Abend im Mai in einem
Hotel in London seinen Anfang fand und an dessen Ende es für den
deutschen Fußball nur Verlierer gibt.
Ein Rückblick in elf Akten auf den großen Aufreger des Sportjahres:
Der Affront
Fans halten das Foto hoch, mit dem alles begann: Erdogan mit Özil und Gündogan.Bild: imago sportfotodienst
Im Londoner Hotel Four Seasons veranstaltet die Partei
des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan ein Charity-Dinner.
Geladen sind auch die Fußball-Profis Mesut Özil und Ilkay Gündogan.
Die Jungs aus dem Ruhrpott mit türkischen Wurzeln lassen sich mit dem
umstrittenen Politiker ablichten, überreichen Trikots. Gündogan
schreibt "für meinen verehrten Präsidenten,
hochachtungsvoll". Die Erdogan-Partei verbreitet diese Bilder mitten im
türkischen Wahlkampf per Twitter – zwei deutsche
Fußball-Nationalspieler an der Seite des in Deutschland als Feind der
Demokratie geächteten Erdogan sind ein PR-Coup.
DFB-Präsident Reinhard Grindel reagiert schnell und
klar in der Sache: Man respektiere die besondere Situation der
Spieler mit Migrationshintergrund:
"Aber der Fußball und der DFB stehen für Werte, die von Herrn Erdogan nicht hinreichend beachtet werden."
Özil und Gündogan hätten sich für den Wahlkampf Erdogans
"missbrauchen lassen". Oliver Bierhoff kündigt eine Aussprache an.
"Die Beiden waren sich der Symbolik und Bedeutung dieses Fotos nicht
bewusst, aber natürlich heißen wir die Aktion nicht gut und
besprechen das mit den Spielern", sagte der DFB-Teammanager.
Einhellig ist das Urteil aus der Politik. Von rechts außen kommt
schnell die Forderung, das Duo aus der Nationalmannschaft zu werfen.
Diese Notwendigkeit sieht Grindel nicht. Sein Statement überrascht
aber insofern, als dass er selbst keine Probleme hat, mit
chinesischen Politikern Kooperationsverträge zu schließen. Womöglich
ist die Erdogan-Kritik aber auch ein eigenes Wahlkampfmanöver gegen
die Türkei, den Konkurrenten der DFB-Bewerbung um die EM 2024.
Nur einen Tag nach dem ersten großen Wirbel
nominiert Joachim Löw seinen vorläufigen WM-Kader. Der DFB lenkt im
Fußballmuseum in Dortmund mit einem Coup vom Thema ab. Der
Bundestrainer und sein Team bekommen neue Verträge bis 2022. Doch
"Özil&Gündogan" bleibt auf der Agenda. Löw spricht von einer
unglücklichen Aktion, macht aber deutlich, beide fahren zur
WM. "Selbstverständlich nicht. Daran habe ich nicht gedacht. Zu
keiner Sekunde!", sagt er über eine mögliche Ausbootung des Duos.
Erdogan wird am gleichen Tag in London von der Queen empfangen.
Das Interesse am Thema ebbt ab. Fußball-Deutschland
freut sich auf das Pokalfinale zwischen dem FC Bayern und Eintracht
Frankfurt. Kurz vor dem Anpfiff kommt die Nachricht: Bundespräsident
Frank-Walter Steinmeier hat beide Spieler empfangen auf Wunsch – Gündogans, wie sich später herausstellt. Fotos werden publiziert, wie
alle drei über den Hof im Schloss Bellevue spazieren.
"Heimat gibt es
auch im Plural", macht Steinmeier seine Überzeugung deutlich, die in
den kommenden Wochen kaum noch eine Rolle spielen wird. Özil sagt in
einem schriftlichen Statement: "Ich bin hier aufgewachsen und stehe
zu meinem Land." Viel mehr wird er für die kommenden zwei Monate
öffentlich nicht äußern. Das Thema ist wieder in den Schlagzeilen.
Das Nationalteam bricht zum Trainingslager nach Südtirol
auf. Und hat das Thema als Problem im Gepäck. Özil und Gündogan
spalten das Land, es gibt Unterstützung, aber auch massive bis
unsachliche Kritik. Ein SPD-Politiker aus Hessen beleidigt sie gar
als "Ziegenficker". Die AfD nutzt jede Gelegenheit, um zu
polarisieren. In Eppan stellt Löw klar, dass das Thema in der
Mannschaft "kein Problem" sei. Beim Test in Österreich (1:2) erzielt
Özil das deutsche Tor, wird aber wie Gündogan von einigen Fans
ausgebuht. Bierhoff fordert, man dürfe die Beiden nicht "auf ewig
verdammen". Kanzlerin Angela Merkel spricht bei ihrem Besuch in Eppan
angeblich mit dem Duo "unter sechs Augen".
Beim traditionellen Medientag sprechen alle Spieler, auch Gündogan,
aber nicht Özil. Der wird beim Training auf dem Rad fotografiert.
Gündogan äußert sich differenziert, nimmt Kritik an, erläutert die
Beweggründe für die Fotos und wehrt sich gegen Anfeindungen.
In Leverkusen
Bei der WM-Generalprobe gegen Saudi-Arabien (2:1)
spielt Özil nicht. Gündogan wird eingewechselt und ausgepfiffen. Löw
ist darüber erbost. "Dass ein Nationalspieler so ausgepfiffen wird,
hilft niemandem." Schon vor dem Spiel macht Bierhoff einen Fehler und
bezichtigt im ARD-Interview die Medien, das Thema immer wieder
aufzubauschen. Die Basta-Rhetorik ist ein Zeichen von Schwäche.
In Watuniki
Das historische sportliche Scheitern in der
WM-Gruppenphase gegen Mexiko (0:1), Schweden (2:1) und Südkorea (0:2)
hat primär nichts mit Özil und Gündogan zu tun. Die Mannschaft spielt
in Russland kollektiv schlecht. Özil hat sogar mit die besten
statistischen Werte im schwachen deutschen Team – und wird doch von
vielen als WM-Buhmann abgestempelt. Wieder setzt es vom rechten Rand
dumpfe Verunglimpfung. Aus der Mannschaft wird mittlerweile
eingeräumt, dass die Thematik "ein bisschen gestört" habe, wie
Kapitän Manuel Neuer meint. Özil schweigt weiter beharrlich zu allen
Vorwürfen. Gündogan ist seit seinen Äußerungen in Südtirol aus der
Schusslinie.
Die Breitseiten
Mannschaftsmanager Oliver BierhoffBild: imago sportfotodienst
Das WM-Desaster ist eine Woche her und Löw längst im
Urlaub, da verzettelt sich Bierhoff mit missverständlichen Aussagen
zur Rolle Özils. Man hätte überlegen sollen, aus sportlichen Gründen
auf ihn zu verzichten, sagt er in einem Interview, rudert dann wieder
zurück. Es bleibt aber der Eindruck: Özil wird zum WM-Buhmann
abgestempelt. Wer nun ein präsidiales, moderierendes Wort von Grindel
erwartet, wird enttäuscht. Der DFB-Boss gießt verbal Öl ins Feuer und
gibt ebenfalls in einem Interview die Forderung aus: Özil müsse sich
nun endlich erklären. Statt den Spieler gegen die laufende Hetze im
Netz zu schützen, wird er zum Sündenbock gemacht.
Der Rücktritt
Eine Woche nach dem WM-Finale kommt das von Grindel
geforderte Özil-Statement, aber es sieht ganz anders aus, als erwartet. Beim DFB dachte man, Özil würde sich für die
Fortsetzung im Deutschland-Trikot entscheiden, quasi klein beigeben.
Im Gegenteil: In einer dreiteiligen Social-Media-Offensive rechnet
Özil ab. Er erklärt, warum er die Fotos immer wieder machen würde und
attackiert schließlich neben Sponsoren und Boulevardmedien den
DFB und vor allem Grindel.
"Mit schwerem Herzen und nach langer Überlegung werde ich wegen der jüngsten Ereignisse nicht mehr für Deutschland auf internationaler Ebene spielen, so lange ich dieses Gefühl von Rassismus und Respektlosigkeit verspüre."
So endet das Statement und damit Özils
DFB-Karriere nach 92 Länderspielen und dem WM-Titel 2014 als Krönung.
Der Rassismus-Vorwurf wiegt schwer. Schnell weist der
DFB alle Anschuldigungen zurück. Doch Grindel gerät wie Bierhoff
unter Druck. Das miserable Krisenmanagement fällt ihnen auf die Füße.
Das Thema beschäftigt Deutschland im Sommerloch. Längst ist es ein
Politikum, das alle Parteien für ihre Interessen instrumentalisieren.
Özil steht stellvertretend für hunderttausende Deutsche türkischer
Herkunft und deren angebliche Integrationsprobleme.
In der öffentlichen Wahrnehmung kommt Özil weiter schlecht weg. Die
Erklärung sei ihm vom Berater diktiert worden, er dazu intellektuell
gar nicht in der Lage. Oder: Die Familie seiner Freundin
habe private Kontakte zu Erdogan, sie sei der Grund für den ganzen
Schlamassel.
Schnell kommt es zudem zu einer großen Fehlinterpretation. Obwohl
Özil nicht von Rassismus in der Nationalmannschaft selbst geschrieben
hat, verteidigen sich Akteure aus dem elitären DFB-Kreis. Geäußerte
Worte und gefühlte Wahrheiten verschwimmen. Haften bleibt der große
Zorn Özils, vom DFB in schweren Stunden allein gelassen worden zu
sein und beim DFB die Enttäuschung, dass der vermeintliche Prototyp
der gelungenen Integration einem plötzlich so fremd vorkommt.
"Das ist jetzt hoffentlich endlich mal unsere Debatte!"
Video: watson/Yasmin Polat, Lia Haubner
Die Enttäuschung
Bild: imago sportfotodienst
Löw schweigt auch. Sogar noch länger als Özil. Bei
der mit viel Brimborium angekündigten, aber mit wenig Inhalt
gefüllten WM-Analyse Ende August spricht dann auch der Bundestrainer
und erzählt von der Enttäuschung, dass jeder Kontaktversuch zu seinem
einstigen Lieblingsschüler nach dessen Rücktritt vergeblich war. "Ich
habe mehrfach versucht, ihn zu erreichen, per SMS oder per Telefon.
Es ist mir nicht gelungen, ihn ans Telefon zu bekommen." Das Thema
sei "nervenaufreibend", aber nicht die Ursache
für den WM-K.o. gewesen.
Einen Monat später versucht Löw nochmals, Özil zu sprechen. Beim
Besuch der Arsenal-Akademie in London bekommt er seinen Ex-Spieler
aber wieder nicht zu Gesicht. "Wir hätten uns gerne mit Mesut
unterhalten. Aber wir müssen akzeptieren, dass er momentan das
Gespräch mit uns nicht haben will", sagt Bierhoff.
Grindel hat mittlerweile sein Fehlverhalten eingesehen. Kurz vor dem
EM-Zuschlag für Deutschland im Zweikampf mit der Türkei sagt er: "Ich
hätte mich angesichts der rassistischen Angriffe an der einen oder
anderen Stelle deutlicher positionieren und vor Mesut Özil stellen
müssen. Da hätte ich klare Worte finden sollen."
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