
Die Zukunft des Selbstbestimmungsgesetzes ist ungewiss.Bild: dpa / Joerg Carstensen
Analyse
Für die einen ist es bloß ein Begriff, kaum von Bedeutung. Für andere bedeutet das Selbstbestimmungsgesetz (SBGG) hingegen alles: eine Erleichterung des Lebens, ein Gefühl von Akzeptanz und weniger Demütigung.
Doch es gibt eben auch Menschen, die sich aktiv dagegen stellen. Unabhängig davon, ob es ihr eigenes Leben beeinflusst. Laut Grundsatzprogramm planen CDU und CSU, das Selbstbestimmungsgesetz wieder abzuschaffen. Es steht darin schwarz auf weiß.
Friedrich Merz möchte das Gesetz lediglich anpassen, behauptete ein Sprecher des CDU-Bundesvorstands noch kurz vor der Wahl. Der Parteichef habe demnach nicht von einer Abschaffung gesprochen. In seiner jetzigen Form sei es jedoch "nicht haltbar". Nach dem Wahlsieg der Union fürchten Betroffene nun, dass sie Rechte einbüßen könnten.
Was das Selbstbestimmungsgesetz für Menschen wirklich bedeutet
Dabei trat das Selbstbestimmungsgesetz erst am 1. November 2024 in Kraft und löste das seit 1980 geltende Transsexuellengesetz (TSG) ab. Es vereinfacht die Änderung des Geschlechtseintrags und der Vornamen für trans-, intergeschlechtliche und nicht-binäre Personen erheblich. Anstelle eines langwierigen gerichtlichen Verfahrens mit Sachverständigengutachten reicht nun eine einfache Erklärung beim Standesamt.
Das frühere Transsexuellengesetz war für viele Betroffene eine Demütigung. Nele Allenberg vom Institut für Menschenrechte erklärte dazu in einem Interview: "Diese Praxis bedeutete für die Betroffenen lange Wartezeiten, hohe Kosten und wurde aufgrund der teilweise intimen Fragen der Begutachtenden als sehr belastend beschrieben." Darunter waren auch Fragen zur Selbstbefriedigung.
Zudem mussten sich verheiratete Personen erst scheiden lassen. "Dem Transsexuellengesetz lag ein medizinisch veraltetes, pathologisierendes Verständnis von Transgeschlechtlichkeit zugrunde", erklärte Allenberg.
Trans* zu sein, ist keine psychische Störung, das ist längst anerkannt. Die medizinische Fachwelt sieht Geschlechtsidentität als das, was sie ist: eine Realität. Denn trans*, nicht-binäre und intergeschlechtliche Menschen existieren nicht nur in einem "Gefühl" – sie sind da. Und sie verdienen es, dass ihre Identität anerkannt wird.

Jahrzehntelang hat sich die queere Community für das Selbstbestimmungsgesetz eingesetzt.Bild: dpa / Jörg Carstensen
SBGG ist nicht verhandelbar – doch es gibt Angst vor einer Abschaffung
Für Kerstin Thost, Pressesprecher:in beim LSVD+-Verband Queere Vielfalt ist deshalb klar: "Das Selbstbestimmungsgesetz ist nicht verhandelbar." Sie sagt auf Anfrage von watson: "Erfolge wie das Gesetz, die das Leben einiger weniger so viel leichter machen, ohne dabei auch nur irgendwem zu schaden, dürfen nun nicht geopfert werden."
Es sei ein menschenrechtlicher Fortschritt, der jahrzehntelange Bevormundung beendete und das verfassungsmäßige Recht auf Selbstbestimmung stärke.
Sven Lehmann setzte sich jahrelang intensiv für das SBGG ein. Er ist der Queer-Beauftragte der Bundesregierung und erklärte: "Ich bekomme täglich Nachrichten von trans* Menschen, die sagen, dass sie sich erstmals als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft fühlen."
In der queeren Community macht man sich Sorgen, dieses Recht wieder zu verlieren. Auf Reddit tauschen sich User:innen über diese Ängste aus. "Wir alle haben Angst, ich auch", berichtet etwa eine Person in einem Thread, in dem es um die Regierung nach der Wahl und das Selbstbestimmungsgesetz geht. "Aber wir sollten realistisch bleiben", sagt sie. Damit entgegnet sie den Kommentaren, die die Sorge über eine Koalition der Union mit der AfD äußern.
Fakt ist: Wahrscheinlichster Koalitionspartner ist die SPD – und die hat selbst am Gesetz mitgewirkt. Die Partei stellte bereits klar, dass sie hier keine Kompromisse eingehen wolle. Falko Droßmann, queerpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, betonte kürzlich: "Das Selbstbestimmungsgesetz bleibt!"
Letztendlich kommt es aber nicht auf die Worte, sondern auf Taten an. In Koalitionsverhandlungen könnten die unterschiedlichen Positionen zu Konflikten führen. Positiv für die queere Community ist, dass die Prioritäten der Union woanders liegen: bei Migration, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Themen. Insofern besteht aktuell kein großer Druck auf das SBGG.
Am wahrscheinlichsten sind Anpassungen des Gesetzes, besonders in Bezug auf Minderjährige. Nach aktueller Regelung können Jugendliche ab 14 Jahren eine Änderung des Geschlechtseintrags beantragen, benötigen dafür aber die Zustimmung ihrer Sorgeberechtigten. Wird diese verweigert, kann ein Familiengericht entscheiden.
Die Union sieht hier Handlungsbedarf und argumentiert mit Kinderschutz. Kritiker:innen hingegen warnen davor, dass Änderungen an dieser Regelung die Selbstbestimmung von Jugendlichen einschränken könnten.
So auch Sven Lehmann, der in einem früheren Gespräch mit watson erklärte: "Der Kinder- und Jugendschutz umfasst auch den Schutz von transgeschlechtlichen Jugendlichen und Anerkennung ist ein zentraler Schutzfaktor. Zumal es ausreichend Vorkehrungen dafür gibt, dass Entscheidungen nicht leichtfertig, sondern nach reiflicher Überlegung getroffen werden, gerade auch bei minderjährigen Menschen." Deswegen unterstütze auch der Kinderschutzbund ausdrücklich das SBGG.
Einzelne Frauenrechtsgruppen äußern ebenfalls Bedenken, dass eine Änderung des Geschlechtseintrags per Selbstauskunft Schutzräume für Frauen beeinflussen könnte. Befürworter:innen des Gesetzes halten dagegen, dass solche Szenarien in Ländern mit ähnlichen Regelungen nicht eingetreten sind.
Selbstbestimmungsgesetz: Wie ist die rechtliche Lage der Union?
Rein rechtlich ist es möglich, das Selbstbestimmungsgesetz durch ein neues Gesetz aufzuheben oder abzuändern. Allerdings müsste ein solcher Schritt die verfassungsrechtlichen Vorgaben beachten, insbesondere die Grundrechte auf Gleichbehandlung und freie Entfaltung der Persönlichkeit.
Das Bundesverfassungsgericht hat in der Vergangenheit mehrfach zugunsten der Rechte von trans* Personen entschieden. Daher könnte eine Abschaffung des SBGG verfassungsrechtlich überprüft und möglicherweise für unzulässig erklärt werden.
Ein Recht rückabzuwickeln, das die Community hart erkämpft hat und jetzt seit wenigen Monaten nutzen kann, wäre ohnehin ein fatales Zeichen für die Gleichstellung von LGBTQIA+ in Deutschland, findet auch LSVD+-Sprecher:in Thost und ergänzt: "Das würde bedeuten, dass trans*, intergeschlechtliche sowie nicht-binäre Menschen ein Spielball in der Politik sind."
Queere Organisationen fordern nicht nur den Erhalt, sondern auch eine Ausweitung der Rechte. Viele queerpolitische Reformen stehen aus, etwa die Reform des Abstammungsrechts. Noch immer hat ein Kind queerer Eltern rechtlich nur einen Elternteil.
Laut einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Ipsos aus dem Jahr 2023 befürworten etwa 62 Prozent der Befragten in Deutschland die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Ehen. Allerdings ist dieser Wert im Vergleich zu früheren Erhebungen um sechs Prozentpunkte gesunken.
Gleichzeitig verzeichnete das Bundeskriminalamt im Jahr 2023 einen Anstieg queerfeindlicher Straftaten um fast 50 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Besonders alarmierend ist der Anstieg der Gewalt gegen trans*, intergeschlechtliche und nicht-binäre Personen um etwa 105 Prozent.
Die EU-Agentur für Grundrechte (FRA) berichtet, dass LGBTQIA+-Personen in Europa vermehrt Gewalt, Belästigung und Mobbing ausgesetzt sind. "Die Aufgabe einer neuen Bundesregierung ist es, politische Verantwortung für das Wohlergehen aller Menschen in Deutschland zu übernehmen", fordert Thost deshalb.
Menschenrechte sind die Grundlage der Demokratie – das betonen auch der LSVD+ und Sven Lehmann. Sie fordern eine klare Absicherung der Rechte von LGBTQIA+-Personen.
Um queere Menschen nachhaltig zu schützen, müsse etwa der Diskriminierungsschutz in Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes explizit um LGBTIQIA+ ergänzt werden. Thost sagt dazu: "Es gibt noch viel zu tun."
Blickt man dieser Tage in die Ukraine, nach Russland, die USA und Donald Trump, fällt häufig der Name Neville Chamberlain. Im Jahr 1938 hat Chamberlain, damals britischer Premierminister, im Zuge der sogenannten Appeasement-Politik das Münchner Abkommen verabschiedet: Das zur Tschechoslowakei gehörende Sudetenland wurde an Nazi-Deutschland abgetreten, um Hitlers imperialen Machthunger zu stillen. Der Plan scheiterte bekanntermaßen krachend.