Radikale Gedankengänge sind Ursprung für Hass und Gewalt. Wie es enden kann, hat sich am 23. August erneut gezeigt. Diesmal in Solingen. Dort ist ein junger Mann in der Menschenmenge auf dem Stadtfest plötzlich mit einem Messer willkürlich auf andere Menschen losgegangen. Dabei hat er ein Blutbad angerichtet, drei Menschen starben, mehrere wurden verletzt. Der 26-Jährige wurde am Samstag festgenommen.
Mittlerweile hat die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) die Tat für sich reklamiert. In einer Mitteilung beim IS-Sprachrohr Amak hieß es, der Angreifer sei IS-Mitglied gewesen und habe die Attacke aus "Rache für Muslime in Palästina und anderswo" verübt.
Der mutmaßliche Täter soll im Jahr 2022 nach Deutschland gekommen sein. Doch die Gefahr lauert auch in deutschen Kinderzimmern, in den Untiefen des Internets. Kinder und Jugendliche werden zunehmend von islamistischen Terrorgruppen radikalisiert. Als Hebel fungiert der Israel-Gaza-Krieg, um junge Menschen auf verschiedensten Plattformen gezielt anzusprechen und zu beeinflussen, wie das Bundeskriminalamt (BKA) im Gespräch mit watson warnt.
"Die Gefährdungslage im Bereich des islamistischen Terrorismus in der Bundesrepublik Deutschland ist anhaltend hoch", sagt ein Sprecher des BKA. Immer häufiger spielten Jugendliche und junge Erwachsene im Zusammenhang mit Ermittlungen zu etwaigen Anschlagsabsichten eine Rolle.
Verstärkt sei feststellbar, dass sich Personen ausschließlich online radikalisieren. Das Internet mit seinen verschiedenartigen Möglichkeiten zeigt sich laut BKA, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, als Radikalisierungsbeschleuniger.
In Österreich gibt es aktuelle Beispiele zu konkreten Bedrohungen durch radikalisierte Jugendliche: Zwei Verdächtige, ein 19-Jähriger und ein 17-Jähriger, wurden wegen mutmaßlicher Anschlagspläne bei den Taylor-Swift-Konzerten festgenommen. Der ältere der beiden, ein österreichischer Staatsbürger mit Wurzeln in Nordmazedonien, soll sich über das Internet radikalisiert und erst vor wenigen Wochen einen Treueschwur auf den Anführer des IS geleistet haben.
Besorgniserregend ist, dass die Zielgruppe der Dschihadisten immer jünger wird. Es gebe "unglaublich emotionsgetriebene Identitätskampagnen im Netz, die speziell auf Kinder und Jugendliche abzielen", erläuterte der Konfliktforscher Andreas Zick der "Rheinischen Post" bereits vor dem Anschlag in Solingen.
Ein effektiver Hebel ist hier der Krieg im Gazastreifen. Er ist nicht nur eine humanitäre Katastrophe für die Menschen in der Enklave; der Konflikt produziert auch schreckliche, aber starke Bilder.
Die Wut über die Zehntausenden toten Zivilist:innen und Kinder ist ohnehin schon groß. Doch "islamistische Gruppierungen nutzen und befördern die Emotionalisierung, die mit dem Gaza-Konflikt und der humanitären Lage vor Ort einhergeht, für propagandistische Zwecke", sagt der Sprecher des Bundeskriminalamts zu watson.
Die Terrororganisationen passen sich dem BKA zufolge an das Nutzungsverhalten von jungen Menschen an: Zum einen werden Social-Media-Plattformen verwendet, die bei jungen Menschen besonders beliebt sind. Zum anderen werden die Inhalte kürzer, schneller und visueller.
Und blutig.
Bei den Radikalisierungsversuchen setzen islamistische Organisationen auch auf die Darstellung von Kriegsopfern. Der BKA-Sprecher warnt:
Im Internet werden etwa konkret Bilder von palästinensischen Opfern, insbesondere von Kindern und Babys, gezeigt. "Begleitet von Propaganda, die suggeriert: Das sind eure Brüder und Schwestern", sagt der Konfliktforscher und Sozialpsychologe.
Diese Vermischung von propalästinensischen und islamistischen Inhalten auf Social Media beobachtet der Experte vor allem seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober und dem Beginn des brutalen Gazakriegs.
Laut BKA wird mithilfe des Kriegs in Gaza auch zur Begehung von Anschlägen im Westen aufgerufen. "Dieser Konflikt kann für Personen aus der jihadistischen Szene somit unverändert als moralische Rechtfertigung für die Begehung von Straftaten in Deutschland dienen", sagt der BKA-Sprecher zu watson.
Damit verfolgen islamistische Organisationen die Strategie, Personen über Propaganda und zum Teil über Anleitung via Chatgruppen zu radikalisieren und zum Handeln zu bewegen. Bei eventuellen Tatvorbereitungen auf terroristische Gewalttaten erhalten sie dann Unterstützung über das Internet.
Neben den extrem emotionalen Beiträgen ist ein wesentlicher Faktor, der die Radikalisierung begünstigt, laut Zick das Schweigen im familiären Umfeld. "Solche Propaganda verfängt besonders bei jungen Menschen, wenn im Umfeld niemand über diese Themen spricht. Das Schweigen der Eltern und Geschwister verstärkt das Problem", sagt er. Zudem warnt er vor den Gefahren von Stereotypen: "Wasser auf die Mühlen des Opferbildes sind Lehrer, die ein undifferenziertes Bild vom Islam und Muslimen haben und Klischees im Kopf festhalten."
Junge Menschen seien besonders empfänglich für Stereotype, was einen Nährboden für neuen Extremismus bilde, erklärt der Experte weiter.
Begünstigend für Gewalttaten wirken außerdem gewalttätige Aktionen bereits radikalisierter junger Menschen. Sie können laut BKA zudem dazu beitragen, dass sich Konflikte innerhalb des jüngeren Teils der Gesellschaft verstärken, was sich mittelbar auf die Sicherheitslage auswirken könne.
Doch was kann Deutschland gegen solche Gefahren tun? Das BKA hebt die seit dem Anschlag auf das World Trade Center in New York eingerichteten Strukturen der Zusammenarbeit und des Austauschs auf nationaler und internationaler Ebene hervor. Diese, allen voran das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ), hätten sich bereits bewährt. Die Basis sei gelegt, "auf neue Phänomene konstruktiv und schnell reagieren zu können", sagt ein Sprecher des BKA zu watson.
Die Arbeit der GTAZ-Arbeitsgruppe "Deradikalisierung" mit ihren Kooperationspartnern der Länder und des Bundes sei hierfür ein gutes Beispiel. Hier werden neue Konzepte der Präventionsarbeit entwickelt und umgesetzt. Beispielsweise wurde schnell auf den erhöhten Beratungsbedarf reagiert, der sich mit dem Nahost-Konflikt gerade im schulischen Kontext entwickelte.
Ob das ausreicht, ist angesichts der zunehmenden Radikalisierung fraglich. Denn: Die Erkennbarkeit einer Online-Radikalisierung ist für die Sicherheitsbehörden aufgrund der Komplexität schwierig.
Der Essener Grünen-Bundestagsabgeordnete Kai Gehring, Vorsitzender des Bildungsausschusses, betonte bei der "Rheinischen Post" die Bedeutung von präventiven Maßnahmen. Er sieht es als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, junge Menschen gegen Radikalisierung zu immunisieren.
Vom Elternhaus über die Schule bis hin zur Regulierung von Plattformen müsse alles getan werden, um die Heranwachsenden zu schützen. Besonders wichtig sei es, die Lehrpläne zu aktualisieren, um den Umgang mit Fake News stärker zu thematisieren.
Andreas Zick fordert zudem eine Verstärkung der Sozial- und psychologischen Arbeit. Denn langfristig seien die Auswirkungen von ungebrochener Radikalisierung sehr viel teurer. Letztlich hilft wohl nur ein Mix aus verschiedensten Maßnahmen.