Die Bilder erschütterten die Welt. Die Leiche des dreijährigen Aylan Kurdi aus Syrien war Anfang September 2015 an der türkischen Küste in der Nähe des Ferienorts Bodrum angespült worden. Seine Familie hatte versucht, das Mittelmeer in einem Boot zu überqueren, auf der Suche nach einem besseren Leben, am liebsten in Kanada.
Auch Aylans Mutter und sein Bruder ertranken.
Die Anteilnahme an ihrem Schicksal war groß. Aylan wurde zur Symbolfigur für Hunderttausende Flüchtlinge, die im Spätsommer und Herbst 2015 über das Mittelmeer und die Balkanroute nach Europa gelangten. Die meisten kamen nach Deutschland, wo sie nicht von allen, aber von vielen mit offenen Armen empfangen wurden. Der Begriff "Willkommenskultur" ging um die Welt.
Heute findet man im Netz wieder Bilder von ertrunkenen Kindern und Babys, die von Angehörigen der libyschen Küstenwache an Land gebracht werden. Der Anblick ist nicht weniger entsetzlich als jener des toten Aylan Kurdi. Nur wenige Medien aber haben sie publiziert.
Statt Anteilnahme und Willkommenskultur dominiert im Europa des Jahres 2018 das Schweigen.
Nichts illustriert deutlicher die gewandelte Einstellung gegenüber den Flüchtlingen als der Umgang mit den ertrunkenen Kindern. Europa verschließt die Augen. Abschottung ist angesagt. Hilfsschiffe irren über das Meer auf der Suche nach einem Hafen und werden beschlagnahmt. Rettungsflieger werden gegroundet. Kaum jemand wagt es noch, sich für Flüchtlinge einzusetzen.
Den Ton geben Scharfmacher an wie der italienische Innenminister Matteo Salvini, der die Häfen seines Landes für Rettungsschiffe abgeriegelt hat. Den Italienern gefällt diese Härte. Salvinis Lega erreicht in Umfragen rund 30 Prozent und hat damit ihren Koalitionspartner, die Fünf-Sterne-Bewegung, überholt. Bei den Wahlen im März kam die Lega auf 17 Prozent.
Beim Jahrestreffen der Partei forderte Salvini ein europaweites Bündnis gegen "Masseneinwanderung". Dabei ist die Migration über die Mittelmeerroute auf einem Tiefststand. Im ersten Halbjahr 2018 wurden rund 45.000 Personen registriert. Gleichzeitig ertranken mehr Menschen beim Versuch, Europa zu erreichen. Mehr als 1400 waren es seit Jahresbeginn.
Trotzdem überbieten sich Europas Politiker derzeit mit Forderungen nach einer schärferen Asylpolitik. Die "Festung Europa" soll Realität werden, damit möglichst keine Migranten mehr auf den Kontinent gelangen. Im Gegenwind befindet sich Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der Herausgeber der eigentlichen seriösen FAZ bezichtigte sie in einem Kommentar auf Stammtischniveau, mit ihrer "Willkommenspolitik" die EU zu spalten.
Dabei hat Merkel sich längst davon verabschiedet. Auch sie will einen Ausnahmezustand wie 2015 unbedingt verhindern. Dennoch wurde sie von ihrem Koalitions- und Fraktionspartner CSU in die Ecke gedrängt und zu einer härteren Gangart gegenüber Asylsuchenden angetrieben. Nur mit Mühe konnte ein Bruch und damit wohl das Ende von Merkels Kanzlerschaft verhindert werden.
Warum aber eskaliert die politische Lage gerade jetzt, wo die Migration abnimmt?
Es ist der späte Fallout der Krise von 2015. Die "Refugees welcome"-Euphorie überdeckte, dass viele Menschen sich nicht erfreut, sondern bedroht fühlten. Eine Folge ist der Aufstieg der rechtspopulistischen AfD. Auch in anderen Ländern Europas sind die Abschotter im Aufwind. Es sind nicht nur Schreihälse wie Matteo Salvini. Manchmal tragen sie ein freundliches Antlitz wie jenes des österreichischen Bundeskanzlers Sebastian Kurz.
Für "Politico" ist "die Entmenschlichung Europas auf dem Vormarsch". Die Anführer der Europäischen Union würden vor populistischen Antieinwanderungs-Politikern kapitulieren und "die Zugbrücke gegenüber Migranten hochziehen, die vor Krieg, Hunger und Armut in Afrika und im Nahen Osten fliehen", heißt es in einer Kolumne.
Im Umgang mit Migration herrscht ein Schwarzweißdenken, wo eigentlich Differenzierung angebracht wäre. Als ich kürzlich in Brüssel weilte, sprach ich mit EU-Beobachtern auch über das Reizthema Migration. Zwei von ihnen stammen zufälligerweise aus Griechenland, das neben Italien am stärksten von den Fluchtbewegungen über das Mittelmeer betroffen ist.
Petros Fassoulas, Generalsekretär der Europäischen Bewegung International, betrachtet die Migration als Chance, wirtschaftlich und im Hinblick auf die Demografie: "Diese 'neuen Europäer', wie ich sie nenne, haben viel zu bieten." Maria Demertzis von der Denkfabrik Bruegel sieht es ähnlich, sie warnt aber:
Sie bezog sich dabei auf den Brexit, zu dem die Zuwanderung aus der EU entscheidend beitrug. Das Beispiel lässt sich aber ohne weiteres verallgemeinern. Für gewachsene Gesellschaften ist ein starker Zustrom von Menschen, die womöglich aus "fremden" Kulturen stammen, nicht nur materiell und logistisch eine Herausforderung, sondern auch mental.
Die Schweiz macht damit seit einem halben Jahrhundert ihre Erfahrungen. Andere wurden erst in letzter Zeit damit konfrontiert. Daraus erklärt sich auch der Widerstand der Osteuropäer, die während ihrer Zeit hinter dem Eisernen Vorhang kaum mit Migration konfrontiert waren. Ihre Abneigung gegen Multikulti als Rassismus abzutun, greift zu kurz.
Eine Politik, die auf Härte durch Abschottung setzt, ist aber auch keine Lösung. Es braucht einen Mittelweg, auch wenn dies leichter gesagt ist als getan. Europa muss nur schon aus demografischen Gründen ein gewisses Maß an Migration zulassen. Dabei muss man sich eingestehen, dass ein solcher Prozess nie reibungslos ablaufen wird. Die Neuankömmlinge sollten deshalb in die Pflicht genommen werden, mit Sprach- und Integrationskursen.
Und sie müssen so schnell wie möglich in den Arbeitsmarkt aufgenommen werden. Arbeitsverbote für Asylsuchende sind Unsinn. Sie haben noch nie eine abschreckende Wirkung entfaltet, sondern hindern die "neuen Europäer" nur daran, ihr Potenzial zu entfalten. Im Gegenzug ist eine Beschleunigung der Asylverfahren und der Abschluss von Rückführeabkommen notwendig.
Auch bei der Bekämpfung der Fluchtursachen ist anzusetzen. Denn auch ohne die Horrorszenarien einer Bevölkerungsexplosion in Afrika muss man anerkennen, dass der Migrationsdruck aus dem Süden anhalten wird. Ein Patentrezept gibt es nicht. Noch mehr Geld nach Afrika zu pumpen genügt nicht. Nötig wären fairere Wirtschaftsbeziehungen und bessere Regierungen.
Dies alles wirkt höchstens langfristig. Heute setzt Europa auf eine personelle Aufstockung der Grenzschutzagentur Frontex und Auffanglager für Migranten, auch wenn sich bislang kein Land dazu bereit erklärt hat, sie zu betreiben. Die Nordafrikaner wollen nichts davon wissen. Vielleicht schielen sie auf die Milliarden, die Europa dem türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan zuschanzt, damit keine Flüchtlingsboote mehr an seiner Küste anlegen.
Abriegelung ist das Motto eines Europa, in dem die Rechten den Ton angeben und die Verfechter einer humanitären Flüchtlingspolitik den Kopf einziehen. "Politico" verweist deshalb darauf, dass die Europäer sich nicht auf ihre Moral berufen können, wenn sie die Migrationspolitik von US-Präsident Donald Trump kritisieren: "Wenn die EU eine Mauer durchs Mittelmeer bauen könnte, hätte sie es inzwischen getan."