Bis 2015 schien die Welt für viele junge Menschen in Europa noch größtenteils in Ordnung. Zumindest waren Kriege fern und hatten kaum Auswirkungen auf das Leben hierzulande. Das änderte sich 2015. Durch die große Migrationskrise konnte die Bevölkerung in Deutschland das Leid nicht mehr ignorieren.
Viele Menschen flüchteten damals aus Syrien nach Deutschland, weil der seit 2011 herrschende Bürgerkrieg sich zu einem komplexen Stellvertreterkrieg mit massiven Menschenrechtsverletzungen entwickelte und Millionen zur Flucht zwang. Der Krieg hatte einen neuen Höhepunkt erreicht.
In den vergangenen Jahren konzentrierten sich die großen internationalen Schlagzeilen auf andere Krisen und Kriege. Doch die Lage in Syrien blieb trotz kurzzeitiger Stabilisierung durch den Machthaber Bashar al-Assad und seine Verbündeten gewaltvoll und schwierig. Nun flammt der Konflikt erneut auf.
Mit der aktuellen Offensive der Rebellen und den Gegenschlägen von Assads Armee erlebt Syrien derzeit die größte Gewalteskalation seit 2020, stellt Dr. André Bank auf watson-Anfrage klar. Er forscht am GIGA-Institut für Nahost-Studien, unter anderem zum Syrien-Krieg. Ihm zufolge könnte ein nahezu landesweiter Krieg drohen.
Die jüngste Gewalteskalation ist zwar primär eine innersyrische Angelegenheit. Doch die weltpolitische Lage hatte einen großen Einfluss darauf, dass der Konflikt erneut eskalieren konnte.
Ein Grund ist, dass die Macht des Präsidenten Bashar al-Assad bröckelt – seine militärischen Unterstützer sind geschwächt: "Der Iran und seine verbündeten, pro-iranischen Milizen in Syrien sind durch vielzählige Angriffe Israels militärisch geschwächt", erklärt Bank. Die Hisbollah, die in den Vorjahren noch eine wichtige Unterstützerin Assads gegen die Rebellen gewesen war, falle de facto aus.
Und Russland hat seinen militärischen Schwerpunkt auf den Angriffskrieg in der Ukraine verlegt. Hinzu kommt eine zunehmende wirtschaftliche Schwächung des Assad-Regimes.
Die dominanten Rebellengruppen in Nordwest- und Nordsyrien nutzten die Gunst der Stunde: "Die radikal-islamistische HTS (Hay’at Tahrir ash-Sham) sowie die pro-türkische SNA (SyrianNational Army), haben eine Chance gesehen, die zunehmende Schwächung des Regimes unter Präsident Bashar al-Assad auszunutzen", erklärt der Experte.
Ein von der HTS angeführtes Bündnis von Rebellen startete vergangenen Mittwoch eine überraschende Großoffensive gegen die Streitkräfte der syrischen Regierung. Ein blutiger Konflikt ist entbrannt. Den Rebellen ist es zuletzt gelungen, Assads Kämpfer in kürzester Zeit aus Aleppo zu verdrängen und am Wochenende die Kontrolle über die Stadt zu übernehmen.
Nach der Blitzoffensive hat die Armee nach eigenen Angaben Truppen rund um die umkämpfen Regionen in Stellung gebracht. "Unsere Streitkräfte haben begonnen, sich auf mehreren Achsen in den ländlichen Gebieten von Aleppo, Hama und Idlib zu bewegen, um die Terroristen einzukreisen", hieß es in einer Mitteilung des Generalstabs am Montag. Gemeinsam mit Russland seien Luftangriffe auf Stellungen der Aufständischen geflogen worden, hieß es weiter.
Wie die Perspektiven für das Assad-Regime aussehen könnten, hängt laut André Bank jetzt entscheidend vom weiteren Vorgehen Russlands und des Irans ab. "Russland hat bereits mit seiner Luftwaffe Angriffe auf Rebellenstellungen in Aleppo und Idlib durchgeführt. Hier stellt sich die Frage, inwiefern russische Bodentruppen und Spezialkräfte aufseiten Assads kämpfen werden", sagt er. Auch beim Iran stelle sich die Frage, in welchem Ausmaß seine Revolutionsgarden und andere pro-iranische Milizen mobilisiert werden.
Die Einfluss-Faktoren sind also komplex.
Der Konflikt könnte sich weiter ausbreiten. Sollten oppositionelle Rebellen auch in Süd- und Zentralsyrien aufbegehren und Assad und seine Verbündeten zurückschlagen, so würde es laut des Experten wieder einen fast landesweiten Krieg geben. "Und das Leiden der nach über 13 Kriegsjahren bereits traumatisierten, weithin verarmten Zivilbevölkerung, würde weitergehen", sagt er.
Unterdessen haben die EU, sowie mehrere Nato-Staaten wie die USA, Deutschland, Frankreich und Großbritannien die Konfliktparteien in Syrien zur Deeskalation aufgefordert.
Die derzeitige Eskalation unterstreiche die dringende Notwendigkeit einer politischen Lösung im Einklang mit der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats, hieß es in einer vom US-Außenministerium veröffentlichten gemeinsamen Erklärung. Die Resolution 2254 sieht unter anderem die Vermittlung von Friedensgesprächen der Regierung mit der Opposition vor.