Der Rechtsrutsch in Europa zeigt sich nicht nur durch das Erstarken der rechtsextremen AfD in Deutschland, dem historischen Erfolg der rechtspopulistischen Partei Chega in Portugal und der Stichwahl in Polen, bei der die Stimmen der extremen Rechten entscheidend sein könnten. Die politische Richtung scheint klar – doch aktuelle Wahlergebnisse erzählen eine andere Geschichte.
Wie eine Analyse des "Tages-Anzeigers" vom 15. Mai zeigt, sind aktuell nur noch acht von 31 EU- und OECD-Ländern von linken Regierungen geführt. Das ist ein deutlicher Rückgang im Vergleich zu den frühen 2000er-Jahren, als es noch 13 waren. Besonders die Sozialdemokratie verliert an Einfluss. Die klassischen Milieus – Industriearbeiterschaft, Beamte – bröckeln, während rechtspopulistische Angebote sich teils stabilisieren, teils neue Wählerschichten erschließen.
Gleichzeitig betonen Politologen wie Nenad Stojanović, dass sich rechte und linke Regierungen in vielen Demokratien regelmäßig abwechseln – etwa in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien. "Grundsätzlich hat jede Partei eine Kernwählerschaft, die ihr treu bleibt", sagte er dem "Tages-Anzeiger". "Den Unterschied machen jene Personen, die ihre politische Ausrichtung bei jeder Wahl ändern." Das erschwert es, langfristige Trends klar zu identifizieren.
Doch der Trend ist kein Automatismus. Während in Portugal eine rechtsnationale Partei einen Rekordwert erzielt, gewinnen in Rumänien und womöglich auch in Polen proeuropäische Kräfte an Boden – oder verteidigen ihre Stellung gegen den Druck von rechts.
Ein klares Signal kam jetzt aus Rumänien: Der proeuropäische parteilose Kandidat Nicusor Dan hat sich bei der Stichwahl am Sonntag mit fast 54 Prozent gegen den ultrarechten George Simion durchgesetzt. Simion, Chef der rechtsradikalen Partei AUR und bekennender Anhänger von Donald Trump, hatte die erste Wahlrunde noch klar angeführt.
Nach einem turbulenten Wahlabend, an dem beide Kandidaten den Sieg für sich beanspruchten, gestand Simion in einem Facebook-Video seine Niederlage ein.
Im Wahlkampf hatte Simion gegen die EU gewettert und eine Reduktion der Militärhilfe für die Ukraine gefordert. Doch es kam zu einem bemerkenswerten Mobilisierungsschub für die demokratischen Kräfte. Wie AFP berichtet, lag die Wahlbeteiligung bei rund 65 Prozent – deutlich höher als im ersten Durchgang.
Die Bundesregierung sieht das Votum der Rumän:innen laut Regierungssprecher Stefan Kornelius als ein "starkes Zeichen für ein sicheres Europa". EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen begrüßte Dans Wahlsieg mit ähnlichen Worten. Auch Emmanuel Macron und Wolodymyr Selenskyj gratulierten.
Der rumänische Politologe Sergiu Miscoiu sprach laut Nachrichtenagentur AFP von einer Wahl mit "offensichtlichen geopolitischen Auswirkungen" – gemeint ist damit vor allem die klare Westbindung Rumäniens, die Absage an eine EU-skeptische Linie à la Simion und ein außenpolitisches Signal in Richtung Ukraine und Nato-Partner.
In Polen steht am 1. Juni eine entscheidende Stichwahl an. Sie könnte den kompletten Machtwechsel im Land besiegeln – oder ihn vorerst stoppen. In der ersten Runde lag der liberale Rafał Trzaskowski mit 31,2 Prozent vor dem PiS-nahen Historiker Karol Nawrocki, der auf 29,7 Prozent kam. Doch laut der Tageszeitung "Rzeczpospolita" kann Nawrocki im zweiten Wahlgang mit Unterstützung aus dem rechtsextremen Lager rechnen. Deren Stimmen könnten den Ausschlag geben.
Die Kandidaten Slawomir Mentzen und Grzegorz Braun, beide von der Partei Konfederacja, kamen zusammen auf über 21 Prozent. Ihre Anhänger:innen machen keinen Hehl daraus, wem sie ihre Stimme in der Stichwahl geben werden: "Jeder, nur nicht Trzaskowski", erklärten Parteivertreter offen.
Trzaskowski, Bürgermeister von Warschau, ist kein Neuling: Bereits 2020 hatte er knapp gegen Amtsinhaber Duda verloren. In seiner Außenwahrnehmung setzt er auf proeuropäische Zusammenarbeit, wirtschaftliche Nähe zu Deutschland und sicherheitspolitische Verlässlichkeit in der Nato. Gleichzeitig schlägt er in Migrationsfragen auch mal schärfere Töne an – was ihm in Polen als Realismus zugutegehalten wird.
In Portugal überraschte hingegen die rechtspopulistische Partei Chega mit einem historischen Ergebnis. Bei der vorgezogenen Parlamentswahl am 19. Mai erreichte sie über 22,5 Prozent der Stimmen und wurde zweitstärkste Kraft. Chega-Chef André Ventura erklärte laut dpa: "Wir schreiben Geschichte. Von nun an wird in Portugal nichts mehr wie vorher sein."
Doch die politische Realität sieht für Chega vorerst ernüchternd aus. Ministerpräsident Luís Montenegro von der konservativen AD schloss eine Koalition mit der Partei aus.
Eine Brandmauer gegen Rechts, die laut dpa "am Tejo-Fluss ähnlich stabil wie in Deutschland" steht. Eine Regierungsbildung dürfte sich trotzdem schwierig gestalten, da auch ein Bündnis mit den Sozialisten als ausgeschlossen gilt.
Die Sozialistische Partei (PS) fiel unterdessen auf ihr schwächstes Ergebnis seit 1987. Parteichef Pedro Nuno Santos trat noch am Wahlabend zurück. Die politische Krise in Portugal wird wohl andauern – doch trotz des Rechtsrucks bleibt eine Regierungsbeteiligung der Populisten vorerst unwahrscheinlich.
Auch in Finnland ist vom Rechtsruck nichts zu spüren – im Gegenteil. Bei den Kommunal- und Regionalwahlen am 13. April 2025 verlor die rechtspopulistische Finnenpartei mehr als die Hälfte ihrer Stimmen und landete mit nur 7,6 Prozent auf einem historischen Tiefstand. Wie die "Helsinki Times" berichtet, war das ihr schlechtestes Ergebnis seit Jahren. Gleichzeitig feierten die Sozialdemokraten (SDP) ihr bestes Kommunalergebnis seit 2004 und wurden mit 23 Prozent erstmals seit zwei Jahrzehnten stärkste Kraft auf lokaler Ebene.
Die Wahl wird als Abrechnung mit der konservativ geführten Regierung von Petteri Orpo gewertet, insbesondere mit deren Austeritätskurs und Kürzungen im Sozialbereich. Die Entwicklungen in Finnland zeigen: Linke Kräfte können gewinnen, wenn sie soziale Sicherheit überzeugend vertreten.
Auch wenn rechte Parteien in mehreren Ländern auf dem Vormarsch sind: Von einem einheitlichen Rechtsruck kann offenbar nicht die Rede sein. Wie der "Tages-Anzeiger" analysierte, verlieren Mitte-Links-Parteien vor allem, weil ihre früher festen Wählermilieus zerfallen: Die klassische Industriearbeiterschaft schrumpft, neue Berufe sind politisch schwerer zu binden.
Der Kampf um diese politische Mitte ist offen – und das birgt Chancen. "Wir erleben eine Phase der politischen Neujustierung in Europa", sagt die Politikwissenschaftlerin Silja Häusermann von der Universität Zürich. "Die traditionellen Wählerbindungen lösen sich auf, und neue Koalitionen entstehen – sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite des Spektrums."
Auch Sergiu Miscoiu ordnet ein: "Die Wahl in Rumänien hat nicht nur nationale, sondern klare geopolitische Auswirkungen. Sie zeigt, dass proeuropäische Kräfte in der Lage sind, sich gegen extremistische und prorussische Tendenzen durchzusetzen." Die Wahlkarte Europas verändert sich – aber nicht eindimensional. Wer heute von einem unaufhaltsamen Rechtsruck spricht, übersieht die Dynamik der Demokratie.