Positionieren, Rücksicht nehmen, verwässern – SPD. Der Streit um den Paragrafen 219a steht exemplarisch für das grundsätzliche Dilemma der SPD in der Großen Koalition.
15.12.2018, 11:17
Am Ende folgt der Vorschlag ein bisschen dem Prinzip Horoskop: Jeder darf und sollte etwas anderes darin lesen. In der Hoffnung, dass am Ende alle mit einem guten Gefühl nach Hause gehen.
Die Rede ist vom "Stand der Beratungen" der Großen Koalition zum Paragrafen 219a. Seit einem dreiviertel Jahr wurde innerhalb der GroKo händeringend nach einem Kompromiss gesucht. Herausgekommen ist ein Kompromiss vor dem Kompromiss: Ein Kompromissvorschlag. Der kleinste Nenner unter den kleinsten Nennern.
Der Paragraf 219a verbietet Ärztinnen, Informationen über Abtreibungen öffentlich zu machen. Mehrere Ärztinnen wurden angezeigt, die auf ihrer Internetseite darüber informiert hatten, dass sie Abtreibungen vornehmen.
Befürworter des Paragrafen (mehrheitlich in der CDU/CSU) halten das für unzulässige Werbung. Gegner (mehrheitlich in der SPD) sehen das Recht auf Zugang zu Informationen eingeschränkt und fordern Rechtssicherheit für Ärzte.
Der Kompromissvorschlag enthält dann auch zwei Botschaften:
Einmal soll ein Informationsauftrag gesetzlich verankert werden – Bundesärztekammern und die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sollen die Adressen bereitstellen.
Gleichzeitig soll das grundsätzliche Werbeverbot beibehalten werden.
Ein bisschen Rechtssicherheit für die Gegner des Paragrafen, das Signalwort "Werbung" für die Befürworter.
Aber: Richtig konkret soll es erst im Januar werden, dann, wenn ein detaillierter Gesetzestext vorliegt.
Heißt: Der Vorschlag, den CDU/CSU und SPD ausgehandelt haben, soll zunächst einmal vor allem eines bringen:
Zeit.
Für Annegret Kramp-Karrenbauer, die – frisch im Amt und um Unterstützung gerade vom konservativen Flügel buhlend – den Vorschlag bei der Jahresauftakt-Klausur des CDU-Bundesvorstands im Januar erst einmal beraten muss.
Vor allem aber für SPD-Chefin Andrea Nahles, die parteiintern gewaltig unter Druck steht.
Der SPD-Abgeordnete Florian Post hatte Andrea Nahles gar ein Ultimatum gestellt:
"Wenn Andrea Nahles nicht bis Dienstag eine Einigung mit der Union erreicht, die eine Änderung des Paragrafen 219a, eine Rechtssicherheit für Ärzte und freie Information für Frauen beinhaltet, werde ich mit einigen Kollegen in der Fraktionssitzung eine Gewissensentscheidung beantragen."
Bild am Sonntag
Womit wir beim eigentlichen Streit hinter dem Streit um den Paragrafen 219a wären. Denn: Innerhalb der SPD geht es längst um etwas anderes.
Es geht um die Frage, wann die notwendige Kompromissfindung in einer parlamentarischen Demokratie dauerhaft zu Lasten der Kompromissfinder geht. Die SPD hat, schaut man auf die Umfragetief-Dauerschleife, bereits ihre kritische Masse erreicht.
Der Streit um den Paragrafen 219a ist längst zum Glaubwürdigkeitsproblem der SPD geworden.
Bild: imago/montage watson
Für Kritiker steht der Paragraf exemplarisch dafür, wie die SPD ihre eigenen Positionen verkompromissiert und verwässert. Für strategische Fehler der Parteispitze also: Weil die SPD doch eigentlich die Trümpfe in Händen hält, sie aber unnötigerweise dem politischen Gegner zuspielt. Unnötigerweise I: Weil es im Bundestag parteiübergreifend eine Mehrheit gegen den Paragrafen 219a gibt. Unnötigerweise II: Weil im Koalitionsvertrag der Paragraf gar keine Erwähnung findet.
Und das bei einem Thema, bei dem die SPD ziemlich früh eine klare Haltung hatte.
Bereits im Dezember 2017 fasste die SPD-Fraktion den Beschluss, den Paragrafen streichen zu wollen. Das SPD-geführte Bundesland Berlin brachte gar eine Bundesratsinitiative für die Streichung des Paragrafen ein. Ein Gesetzentwurf dazu war bereits im Frühjahr vorbereitet. Überparteiliche Bündnisse wurden geschmiedet und dann...
Dann sollte die SPD nach den geplatzten Jamaika-Verhandlungen die Regierung retten. Aus Rücksicht auf die Koalitionsverhandlungen mit der Union verzichtete die SPD darauf, einen eigenen Antrag einzubringen. Die SPD stellte ihren Gesetzentwurf vorerst nicht zur Abstimmung. Stattdessen sollte Justizministerin Katarina Barley einen Gesetzentwurf zur Reform des Strafrechtsparagrafen 219a vorlegen, der auch in der Union Zustimmung findet.
Neun Monate und fünf Minister später wurde die kleine Schwester eines Kompromisses geboren: das Kompromissvorschlagspapier. Und allein, dass fünf Minister einen solchen verhandeln und dann auch verkünden mussten, deutet an, dass der Streit um den Paragrafen GroKo-Bruchpotential hat.
Doch: Die Kritik bleibt.
Sie kommt beispielsweise von den SPD-Frauen. "Dem können die SPD-Frauen niemals zustimmen", sagte die Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen (ASF), Maria Noichl, den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. "Wir kämpfen weiterhin für eine Streichung des Paragrafen 219a."
Auch Florian Post, der Andrea Nahles vor der Abstimmung ein Ultimatum gestellt hatte, hat gegenüber watson seine rote Linie gezogen: Für ihn sei maßgeblich, ob Ärztinnen wie die verurteilte Frau Hänel ihre alten Homepages ohne die Gefahr einer Verurteilung wegen unerlaubter Werbung wieder verwenden können.
"Ist die Antwort hierauf ein 'Nein', lehne ich für mich diesen Vorschlag ab."
Florian Post macht Nahles Druck.Bild: imago stock&people
Eine bloße Verlinkung auf beispielsweise behördliche Internetseiten sei nicht ausreichend und "wäre nichts anderes als der ursprüngliche Vorschlag der CDU/CSU".
Auch auf Länderebene bleiben die Gegner des Paragrafen grundsätzlich: Berlin fordert gemeinsam mit Bremen, Brandenburg, Hamburg und Thüringen die komplette Streichung des Paragrafen 219a.
Im Januar also soll ein Gesetzesentwurf zusammenbringen, was eigentlich nicht zusammen passt. Spätestens dann geht der Streit um den Paragrafen 219a weiter. Ein Streit, bei dem es dann um nicht weniger als den Fortbestand der Großen Koalition insgesamt gehen könnte.
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