"Was hört man, wenn zwei Juden miteinander debattieren? Drei verschiedene Meinungen." So lautet ein jüdischer Witz, der auf die zahlreichen und manchmal widersprüchlichen Strömungen innerhalb des Judentums anspielt. Im heutigen Staat Israel äußert sich diese Vielfalt derzeit auf eine Weise, bei der niemandem mehr zum Lachen zumute ist.
75 Jahre nach seiner Gründung befindet sich der jüdische Staat am Rand des Abgrunds. Und es ist nicht der "unendliche" Konflikt mit den Arabern und spezifischer den Palästinensern, der die Existenz Israels bedroht. Die schon lange bestehenden Risse in der Gesellschaft haben sich zu einem kaum überwindbaren Graben vertieft.
Seit Monaten protestieren Zehntausende gegen die von der rechtsnationalen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu geplante Justizreform. Wobei Netanjahu das große Wort führt, doch auf dem "Fahrersitz der israelischen Politik", so die "Washington Post", befinden sich die rechtsextremen Minister Itamar Ben Gvir und Bezalel Smotrich.
Sie stammen aus der Siedlerbewegung und streben die Annexion des Westjordanlands an. Dabei steht ihnen das Oberste Gericht im Weg. Mit der sogenannten Justizreform wollen sie es entmachten. Im Endeffekt soll eine Parlamentsmehrheit Entscheide des Gerichts "überstimmen" können. Das treibt liberale Israelis im wahrsten Sinn auf die Barrikaden.
Sie betrachten die Reform als Vorwand, um Israel in eine "illiberale Demokratie" nach ungarischem Vorbild umzuwandeln, in der die Regierung schalten und walten kann, wie sie will, und Wahlen nur dazu dienen, sie im Amt zu bestätigen. Gleichzeitig solle Israel zum Apartheid-Staat werden, in dem Muslime und Christen Menschen zweiter Klasse wären.
Am Montag verabschiedete das Parlament die erste Stufe der Justizreform. Die Reaktionen ließen nicht auf sich warten. Es kam zu teilweise gewaltsamen Protesten. Mehr als zehntausend Reservisten kündigten an, den Dienst verweigern zu wollen – ein beispielloser Schritt in einem Land, dessen Existenz maßgeblich auf militärischer Stärke basiert.
Der immer noch mächtige Gewerkschaftsbund Histadrut erwägt einen Generalstreik. Ohnehin befürchten Kritiker der Reform einen irreparablen Schaden für die Hightech-Nation Israel. Investoren könnten ausbleiben und ein Braindrain einsetzen. Denn manche Israelis erwägen, dem als Zufluchtsstätte für die Juden gegründeten Land den Rücken zu kehren.
Wie konnte es so weit kommen? Für die Misere gibt es vor allem zwei Gründe.
Israel ist eine Nation ohne schriftliche Verfassung. Es gibt noch nicht einmal eine Zivilehe. Heiraten kann man nur nach religiösem Ritus, was ein Problem ist für jüdische Israelis, die einen nichtjüdischen Partner oder eine nichtjüdische Partnerin ehelichen wollen. Auf Zypern ist deshalb eine eigentliche "Heiratsindustrie" für Israelis entstanden.
Staatsgründer David Ben Gurion wollte auf diese Weise die religiösen Juden, die dem "weltlichen Gebilde" oft skeptisch gegenüberstanden, auf seine Seite ziehen. Dazu gehört auch, dass ultraorthodoxe Juden bis heute keinen Militärdienst leisten müssen. Was den Mythos der Armee als "Kitt" der israelischen Gesellschaft ziemlich relativiert.
Alle Versuche, das Land zu "säkularisieren", sind bislang gescheitert. Hinzu kommt ein gravierendes Problem: "Israel fehlen robuste Kontrollmechanismen, wie sie andere Demokratien kennen", sagte der Historiker Yuval Noah Harari im Interview mit der "NZZ am Sonntag". Es gibt keine Verfassung, keine zweite Parlamentskammer, keinen Föderalismus.
Der Staatspräsident ist eine repräsentative Figur ohne politische Macht. Bleibt nur die Justiz, also das Oberste Gericht. Es ist eine reichlich abenteuerliche Argumentation, wenn die Befürworter der Reform ihm diese singuläre Rolle vorwerfen. Für Erfolgsautor Harari ist der Fall klar: "Sollte unser Widerstand scheitern, werde ich Israel verlassen müssen."
David Ben Gurion, ein areligiöser Zionist, machte die Konzessionen an die Orthodoxen in der Erwartung, dass dieses Segment mit der Zeit schrumpfen würde. Das Gegenteil trat ein. Die Geburtenrate der religiösen Israelis, ob Nationalisten oder Orthodoxe, ist so hoch, dass die säkulare Bevölkerung fürchtet, ihr Land werde zu einem jüdischen "Gottesstaat".
Die Justizreform sehen sie als Schritt in diese Richtung. Für die religiösen Extremisten gibt es buchstäblich kaum Grenzen. Sie wollen die nichtjüdische Bevölkerung "loswerden" und den zweiten jüdischen Tempel, der von den Römern 70 n. Chr. zerstört worden war, in Jerusalem wieder aufbauen. Die Konsequenzen wären nicht absehbar.
So weit muss es nicht kommen, denn das religiöse Lager ist sehr heterogen. Das könnte zum Problem werden, wenn die ohnehin latente Gefahr von außen zunimmt. Ein Angriff der Nachbarländer ist unwahrscheinlich, doch der "Erzfeind" Iran und seine Vasallen Hamas und Hisbollah werden heute nur durch Israels enorme militärische Schlagkraft abgeschreckt.
Wenn Israel Schwäche zeigt, werden sie dies gnadenlos ausnutzen. Die Hisbollah im Libanon sendet nach jahrelanger Zurückhaltung bedrohliche Signale Richtung Süden. Das müsste der Regierung zu denken geben, denn in ihren Reihen befinden sich Parteien aus jenem ultraorthodoxen Lager, das nicht bereit ist, das Land zu verteidigen.
Ein Erfolg der Justizreform könnte sich als Pyrrhussieg erweisen, doch ein Ausweg aus der verfahrenen Lage ist schwierig. Innerhalb der Opposition gibt es Bestrebungen, die Reform vor dem Obersten Gericht anzufechten – also jener Institution, die mit ihr entmachtet werden soll. Falls es dies verhindert, wäre die Staatskrise perfekt.
Einige hoffen deshalb, dass die USA eingreifen, so etwa der "New York Times"-Kolumnist Thomas Friedman. Mit ihrer Militärhilfe von jährlich 3,8 Milliarden Dollar sind sie das einzige Land, das Israel zur Räson bringen könnte. Doch die Regierung von Präsident Joe Biden zeigt wenig Bereitschaft, auch weil die Republikaner Israel geradezu inbrünstig verteidigen.
Laut einer aktuellen Umfrage des staatlichen Fernsehsenders Kan 11 News lehnen 46 Prozent die Justizreform ab. 35 Prozent unterstützen sie, 19 Prozent der Befragten sind unentschlossen.
Die Umfrage zeigt auch, dass die Regierung Netanjahu bei Neuwahlen ihre Mehrheit in der Knesset verlieren würde. Auch deshalb will sie die Justizreform auf Biegen und Brechen durchziehen. Der Regierungschef hat zwar mehrfach Kompromissbereitschaft signalisiert, letztlich aber ist er von den Extremisten abhängiger als umgekehrt.
"Wir werden von rücksichtslosen, unverantwortlichen und völlig unerfahrenen Leuten regiert", sagte der frühere Ministerpräsident Ehud Olmert dem Magazin "Rolling Stone". Zu seinem Nachfolger und Ex-Parteikollegen hat er eine klare Meinung: "Bibi Netanjahu ist ein Narzisst. Bibi Netanjahu ist ein einfältiger Mensch. Bibi Netanjahu glaubt an gar nichts."
Es sind düstere Perspektiven für den innerlich zerrissenen und von außen bedrohten Judenstaat, der ungeachtet seiner Defizite lange ein demokratischer "Leuchtturm" war.